Medizin am Abend Berlin Fazit: Tic-Störungen: Wenn Zwinkern und Zucken zum Zwang
Kinder machen gerne Faxen, deren Sinn für Erwachsene nicht
nachvollziehbar ist. Auch Grimassen oder unsinnige Bewegungen sind bei
Kindern normal und gehen meist vorüber:
Jedes achte Kind oder
Jugendlicher durchlebt Phasen mit einem Tic, Jungen übrigens drei- bis
viermal so häufig wie Mädchen.
Eine extreme Form von Tic-Störungen
allerdings stellt die Betroffenen und auch die Wissenschaft vor große
Probleme:
Die Entstehung des so genannten Tourette-Syndroms (TS) ist
nach wie vor nicht geklärt und es gibt auch keine einheitlichen
Behandlungsprinzipien, berichtet die Stiftung Kindergesundheit in einer
aktuellen Stellungnahme.
Die Definition von „Tic“ liest sich trocken:
Motorische Tics sind
plötzlich einsetzende, nicht vom Willen gesteuerte, zwecklose, abrupte
kurze Bewegungen, die auf einige Muskelgruppen beschränkt sind.
Vokale
Tics sind bedeutungslose Töne und Geräusche durch die Nase, den Mund
oder aus dem Hals.
- Tics sind eine Art „Schluckauf im Gehirn“: Wie der
typische „Hicks“ können auch sie gar nicht oder nur für kurze Zeit
unterdrückt werden. Im Schlaf kommen Tics nur selten vor.
„Am Anfang des Schulalters zeigen etwa acht Prozent, später sogar zwölf
Prozent aller Kinder Tics“, berichtet Professor Dr. Berthold Koletzko,
Vorsitzender der Stiftung Kindergesundheit.
„90 Prozent der Störungen
treten vor dem 12. Lebensjahr auf. Vokale Tics sind seltener als
motorische“.
Hüpfen, Klatschen, Augenrollen
Manche Tics laufen wie eine komplexe Bewegung ab:
Der Betroffene
schüttelt den Kopf, blinzelt, öffnet wie zum Gähnen den Mund und streckt
den Kopf nach hinten durch. Häufig ähneln Tics auch einer scheinbar
sinnvollen Bewegung: Das Kind hüpft oder klatscht; berührt irgendwelche
Dinge oder sich selbst; wirft oder schlägt einen unsichtbaren Gegenstand
in die Luft; verwindet den ganzen Körper; tritt in die Luft; geht in
die Knie und berührt die Erde; schüttelt den Kopf; rollt die Augen nach
oben; streckt die Zunge raus; kreist mit dem Becken; zieht während des
Schreibens den Stift immer wieder zurück; berührt die eigenen (oder auch
fremde) Geschlechtsorgane oder ahmt die Bewegungen anderer nach. Es
nimmt immer wieder merkwürdige, ulkige bis abstoßende Körperhaltungen
ein, schneidet Grimassen, beißt sich auf Zunge oder Lippen oder leckt
sich die Handflächen.
Besonders unangenehm wird es für die Eltern, wenn ihr Kind Laute und
Geräusche als Tics produziert.
Vokale Tics bestehen häufig aus
unappetitlichen Lautäußerungen wie schnüffeln, rülpsen, grunzen,
schnalzen, schniefen, fiepen, räuspern, gurgeln oder klicken.
Auch
Schrei- und Bell-Laute kommen vor.
Mitunter werden auch Schimpfwörter
oder Fäkalausdrücke wiederholt.
Kinder und Jugendliche mit einer
Tic-Störung weisen oft auch andere Verhaltensauffälligkeiten auf,
berichtet die Stiftung Kindergesundheit:
50 bis 60 Prozent von ihnen
sind von einer Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) und
den damit einhergehenden Lernschwierigkeiten betroffen.
In der Regel lassen sich Tics für eine gewisse Zeit unterdrücken, kehren
dann jedoch häufig verstärkt zurück.
Die Kinder versuchen oft, ihre
Tics vor den Lehrern oder den Klassenkameraden zu verbergen. So kann es
sogar passieren, dass der Kinderarzt während der Untersuchung oder auch
der Lehrer während des Unterrichts keinen einzigen Tic beobachtet, das
Kind jedoch in der entspannten Atmosphäre zu Hause häufige und
ausgeprägte Tics zeigt.
„Das Positive ist: Die meisten Tics verschwinden so schnell, wie sie
gekommen sind“, sagt Professor Berthold Koletzko.
„Einfache,
vorübergehende Tics dauern meist nur wenige Tage oder Wochen, eventuell
einige Monate. Sie können verschwinden, erneut auftreten und bessern
sich spontan bei etwa 70 Prozent der Kinder innerhalb eines Jahres“.
Eine Behandlung ist deshalb oft gar nicht notwendig.
Geduldiges Abwarten
ist für diese Fälle die beste Therapie. Ermahnungen und Sätze wie „Hör
auf zu zucken“ nützen wenig und bewirken beim Kind nur, dass es sich
unglücklicher fühlt. Es braucht das Gefühl, von den Eltern auch trotz
seines Tics geliebt und akzeptiert zu sein.
Gemieden und verspottet
Deutlich ungünstiger verläuft die seltene, jedoch extreme Form der
Ticstörungen, die als
„Gilles de la Tourette-Syndrom“ (TS) bezeichnet
wird. Bei dieser Krankheit werden mehrere Bewegungstics mit mindestens
einem vokalen Tic kombiniert.
Häufig werden auch obszöne oder aggressive
Wörter wiederholt.
Das Syndrom beginnt vor dem 21. Lebensjahr, am häufigsten mit sechs bis
acht Jahren und kann ein Leben lang bestehen bleiben. Nach Schätzungen
der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie sind von
der neuropsychiatrischen Erkrankung über 40.000 Kinder und Erwachsene in
Deutschland betroffen.
Die Umwelt reagiert auf die auffälligen, unkontrollierbaren Symptome
meist unverständig, oft ablehnend und mit Spott. Der große psychische
Leidensdruck der Betroffenen ist seit langem bekannt. Tourette-Kranke
wurden von ihrer Umwelt meist gemieden, man hielt sie sogar für vom
Teufel besessen.
Ein typisches Beispiel: Der französische Fürst de Condé
(er lebte im 17. Jahrhundert) stopfte sich Gegenstände in den Mund, um
den unwiderstehlichen Drang zum Bellen zu unterdrücken. Ein anderer
Tourette-Patient erfand ein Blasenleiden, damit er in Gesellschaft stets
einen Vorwand hatte, um die Toilette aufzusuchen. Dort konnte er seinem
Drang nachgeben, einen Schwall von Wörtern aus dem Fäkal- und
Sexualbereich auszustoßen.
Zar Peter der Große, Napoleon und auch Mozart
sollen Tic-Symptome aufgewiesen haben.
Tourette ist eine sehr komplexe Erkrankung: Es gibt nicht zwei Mal das
gleiche Erscheinungsbild. Jeder Betroffene unterscheidet sich mit seinen
Eigenheiten von allen anderen Menschen, die unter dem Syndrom leiden.
Die Tics können sich auch ständig wandeln: Es entstehen neue Tics,
während die früheren nicht mehr auftreten, jedoch später wiederkommen
können.
Die Neigung zu Tics kann offenbar auch vererbt werden. 50 bis 70 Prozent
der Menschen mit mehrfachen Tics oder einem Tourette-Syndrom haben
einen oder mehrere Verwandte mit einer Tic-Störung.
Botenstoffe aus der Balance
Die zurzeit wahrscheinlichste Annahme für die Entstehung der Krankheit
lautet: Beim Tourette-Syndrom handele sich
um eine Störung im
Gleichgewicht zwischen verschiedenen Hirnbotenstoffen
(Neurotransmittern),
insbesondere um eine Überfunktion des Botenstoffs
Dopamin und eine Unterfunktion von Serotonin. Für diese Hypothese
spricht auch die Tatsache, dass selbst schwere Fälle des
Tourette-Syndroms sich durch solche Medikamente lindern lassen, die auf
die Dopamin-Rezeptoren einwirken.
Es liegen Hinweise darauf vor, dass auch Cannabismedikamente in der
Behandlung von Tics wirksam sind. Größere Studien fehlen allerdings und
so ist bisher auch keines der verschreibungsfähigen Cannabismedikamente
zur Behandlung des Tourette-Syndroms offiziell zugelassen.
Fest steht: Zur Behandlung der bizarren Störung nach wie vor keine
Methode, die zur vollkommenen Heilung führt. Derzeit ist kein Medikament
bekannt, welches gleichzeitig alle Symptome des TS
(wie Tic, Zwang,
hyperkinetische Störung) günstig beeinflusst. Für alle zur Verfügung
stehenden Medikamente gilt, dass sie nicht bei allen Patienten wirksam
sind, und dass sie nicht zu einer Symptomfreiheit, sondern lediglich zu
einer Abnahme der Beschwerden führen und darüber hinaus leider nicht
selten von Nebenwirkungen begleitet sind.
Neben den Medikamenten werden auch Entspannungsverfahren und
Biofeedback-Techniken eingesetzt. Operative Verfahren, wie z. B. die
sogenannte tiefe Hirnstimulation müssen derzeit noch als
Ausnahmebehandlung und experimentelle Therapie betrachtet werden.
Auch Lehrer und Mitschüler aufklären
„Besonders wichtig neben der fachärztlichen Betreuung der Betroffenen
und der Linderung ihrer störenden Symptome ist die gründliche Beratung
der Patienten und ihrer Familien“, betont Professor Berthold Koletzko.
„Auch Erzieherinnen, Lehrer und eventuell auch Mitschüler sollten über
die Art der Erkrankung aufgeklärt werden, um einer Stigmatisierung der
Tourette-Patienten entgegenzuwirken“.
Kindern mit einem Tourette-Syndrom muss in der Schule gegebenenfalls ein
Nachteilsausgleich gewährt werden gemäß Schwerbehindertengesetz.
- In
begründeten Einzelfällen kann auch eine Eingliederungshilfe nach dem
Kinder- und Jugendhilfegesetz beantragt werden, so die Stiftung
Kindergesundheit. Vom Versorgungsamt wird das Tourette-Syndrom auf
Antrag als „Schwerbehinderung“ anerkannt. Je nach Art und Ausprägung der
Symptome sind 50 bis 80 Prozent als sogenannter Grad der Behinderung (=
GdB) möglich.
Qualifizierte Informationen dazu sowie Broschüren, Kontakt und Austausch
mit anderen Personen mit Tourette-Syndrom bietet die
Tourette-Gesellschaft Deutschland. Ihre Anschrift: Zentrum für Seelische
Gesundheit, Carl-Neuberg-Str. 1, 30625 Hannover. Telefon: 0511-5323551
(Montag 08.00 – 10.00 Uhr, Mittwoch 14.00 – 16.00 Uhr, Freitag 08.00 –
10.00 Uhr). Internet: www.tourette-gesellschaft.de.
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