Medizin am Abend Berlin - MaAB-Fazit: Mehr Menschen vor Herz-Kreislauf-Stillstand schützen: Interdisziplinäre Expertengruppe veröffentlicht Thesen
Jedes Jahr erleiden in Deutschland rund 113.000 Menschen einen Herz-Kreislauf-Stillstand, ein Drittel von ihnen ist im erwerbstätigen Alter.
In rund 60.000 Fällen wird mit Wiederbelebungsmaßnahmen begonnen.
33 Prozent von diesen Patientinnen und Patienten erreichen lebend das Krankenhaus, elf Prozent verlassen es schließlich lebend – nur 5000 davon ohne neurologische Folgen.
Diese Zahlen sprechen eine deutliche Sprache:
In Sachen Reanimation ist in Deutschland noch viel zu tun.
Ein Expertengremium unter Federführung der Deutschen Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin e.V. (DGAI) hat sich diesem Thema angenommen - und 10 Thesen zur Verbesserung erarbeitet.
Einiges konnte in den vergangenen zehn Jahren schon erreicht werden:
Die Quote der Laienreanimation ist deutlich gestiegen, ebenso die Quote
der telefonischen Anleitung zur Reanimation. Doch es gibt noch viele
Herausforderungen. Dr. Christian Hermanns/DGAI DGAI e.V.
Die interdisziplinäre Expertengruppe unter Federführung der DGAI sowie des Deutschen Reanimationsregisters und des Berufsverbandes Deutscher Anästhesistinnen und Anästhesisten e.V. hat das Thema erstmals vor zehn Jahren ganzheitlich betrachtet:
Im Rahmen der sogenannten Bad
Boller Reanimations- und Notfallgespräche erstellten sie zehn Thesen,
die für eine höhere Quote geretteter Menschen nach
Herz-Kreislauf-Stillstand sorgen sollten. Nun haben die Experten Bilanz
gezogen und ihre Thesen weiterentwickelt – mit eindeutigen Forderungen
an die politischen Entscheidungsträger, aber auch an jede und jeden
Einzelnen.
Zunächst erweiterten sie dabei die Begrifflichkeiten:
Statt von der
allseits bekannten „Rettungskette“ ist nun von der „Überlebenskette“ die
Rede. Diese beginnt nicht erst mit der Notfallsituation, sondern nimmt
die Prävention eines außerklinischen Herz-Kreislauf-Stillstandes mit auf
– und sucht damit den Schulterschluss mit den Hausärztinnen und
-ärzten. Mit ihnen beginnt und schließt die Überlebenskette. Zum einen,
weil sie die ersten Ansprechpartner der Patienten sind und durch
Prävention und Identifikation von Risiken möglicherweise einen
plötzlichen Herzstillstand verhindern können. Zum anderen betreuen sie
die Patientinnen und Patienten nach einem überlebten
Herz-Kreislauf-Stillstand weiter und haben somit eine entscheidende
Rolle, das Risiko eines weiteren zu verhindern.
Lebensrettung nicht als unangenehme Pflicht wahrnehmen
Der Begriff „Überlebenskette“ schließt nach Meinung der Experten aber
auch jede und jeden Einzelnen mit ein. „Lebensrettung darf nicht als
unangenehme Pflicht wahrgenommen werden, sondern muss mit Stolz erfüllt
und als Teil der persönlichen Handlungsfähigkeiten erlebt werden“,
schreiben die Autoren in der anästhesiologischen Fachzeitschrift
A&I, in der die zehn Thesen nun veröffentlicht wurden.
Die Politik – auf kommunaler-, Landes- und Bundesebene – müsse die
Infrastrukturen dafür schaffen, dass die Fähigkeiten zum Leben retten
bereits in der Schule vermittelt werden und in allen Lebensphasen und
-bereichen auch im Erwachsenenalter unterstützt und aufrechterhalten
werden. Nicht nur deswegen fordern die Experten, dass das Thema in einem
nationalen Gesundheitsziel festgeschrieben wird. Als Titel dafür
schlagen sie vor: „Herz-Kreislauf-Stillstand: Prävention, strukturierte
Behandlung, mehr und besseres Überleben sichern“.
- Der Herz-Kreislauf-Stillstand, der auch als plötzlicher Herztod bezeichnet wird, sei in der Regel nicht „plötzlich“ und damit kein schicksalhaftes Ereignis.
- Er kündige sich oftmals durch bestimmte Symptome an und sei vermeidbar, vor allem, wenn er junge, scheinbar gesunde Personen betrifft.
- Daher sind beim Update der zehn Thesen bewusst die Früherkennungs- und Präventionsoptionen auch für den außerklinischen Herz-Kreislauf-Stillstand mit aufgenommen worden.
Ebenso wie genetische Prädiktoren.
„Die postmortale Aufarbeitung eines
plötzlichen Herztodes, aber auch die klinische Aufarbeitung eines
überlebten Herz-Kreislauf-Stillstands und die Identifikation einer
möglichen ursächlichen genetischen Erkrankung ist daher von zentraler
Bedeutung“, schreiben die Autoren und kritisieren: „Gegenwärtig finden
die erforderlichen Untersuchungen nach plötzlichem
Herz-Kreislauf-Stillstand und erfolgloser Reanimation nur fragmentiert
statt, da kein systematischer Prozess für die regelhafte Durchführung
in Deutschland etabliert ist.“
Ziel ist, den Überlebenden eine gute Lebensqualität zu ermöglichen
Eine neue These im Rahmen der Überarbeitung nimmt die
Patientenperspektive ein – und beschreibt das eigentliche Ziel der
Bemühungen aller: mehr Überlebende in einem guten neurologischen Zustand
mit einer – aus Patientensicht definierten – guten Lebensqualität zu
erhalten.
Die Rahmenbedingungen für den Genesungsprozess zählten für die
Fachleute daher ebenso zur „Überlebenskette“: Die oft nicht unmittelbar
„sichtbaren“ Beeinträchtigungen müssten künftig konsequenter,
frühzeitiger und strukturierter im Rahmen von Screeningverfahren erhoben
und im Sinne eines patientenzentrierten und ganzheitlichen
Versorgungskonzeptes behandelt werden können. Die Reanimations-Experten
sehen dabei die Schaffung von „Post-Reanimationsambulanzen“ als den
besten Weg dafür.
Sie fordern ebenso, dass die bislang getrennten Welten der
Reanimationsversorgung – etwa die Leitstelle am Beginn der
Überlebenskette und die Kliniken an deren Ende – zu einer
Handlungseinheit zusammenwachsen müssten.
Interaktion müsse gefördert,
eine offene Kommunikation gewährleistet und Feedbackmechanismen
strukturiert werden. All das ist strukturell in Deutschland bislang
nicht implementiert. Ebenso wenig wie regelmäßige (Team)-Trainings aller
beteiligten Profis und eine einheitliche (Personal)-Struktur aller
Leitstellen sowie deren systematische Befähigung zur
Reanimationsanleitung von Laien per Telefon.
Eine der durch die Formulierung der zehn Thesen 2014 inzwischen
implementierten Errungenschaften ist die Schaffung von speziellen
Cardiac Arrest Centern in Kliniken, die eine spezialisierte
Krankenhausbehandlung während und nach der Wiederbelebung gewährleisten.
In ihrem Thesen-Update betonen die Experten nochmals deren Bedeutung.
Die Behandlung in einem Cardiac Arrest Center ist durch die fachliche
Kompetenz, die apparative Ausstattung und die enge interdisziplinäre
Kooperation mit einer besseren Überlebensrate sowie einem besseren
neurologischen Behandlungsergebnis verbunden, konstatieren sie.
Politik auf allen Ebenen in der Pflicht
In zwei weiteren Thesen fordern die Experten ein deutlich größeres
Engagement der Politik, die verstärkt Verantwortung für das
Qualitätsmanagement im Notfallmedizinsystem übernehmen sollte.
Es reiche nicht aus, die Durchführung an verschiedene Akteure zu delegieren und Vorgaben zu machen.
In einer modernen, von vielen Akteuren geprägten
Versorgungsstruktur sei es die Aufgabe des Auftraggebers – der Städte
und Landkreise sowie der Landesministerien – die Qualität des
Gesamtsystems zu überwachen. Da dies die Qualität der
Gesundheitsversorgung in Deutschland betreffe, sehen die Fachleute auch
das Bundesgesundheitsministerium und den Gemeinsamen Bundesausschuss in
der Pflicht.
Schließlich müssten deutlich größere Anstrengungen in die
Reanimationsforschung investiert werden, denn im Gegensatz zu anderen
medizinischen Bereichen wie der Tumormedizin konnten hier in den
vergangenen Jahrzehnten nur wenige Fortschritte erzielt werden. Die
Experten plädieren hier – analog zur nationalen Krebsforschung – für die
Etablierung eines Zentrums für Reanimationsforschung, durch das eine
durch öffentliche Fördermittel finanzierte dauerhafte multidisziplinäre
und multidimensionale Reanimationsforschung möglich sei. Auch das
Deutsche Reanimationsregister sollte vergleichbar zum Deutschen
Krebsregister öffentlich gefördert und flächendeckend etabliert werden.
Nun setzt die interdisziplinäre Expertengruppe auf die Verantwortung
aller Beteiligten:
„Die Ideen liegen vor - die Umsetzung geht uns alle
an, denn auch die Überlebenskette ist nur so stark wie ihr schwächstes
Glied“, schreibt Prof. Dr. Jan-Thorsten Gräsner als deren Sprecher.
Im Interview blicken zwei der am Thesen-Update beteiligten Experten auf
die Meilensteine, die in den vergangenen zehn Jahren bereits erreicht
werden konnten, und auf die Herausforderungen der Zukunft. Dabei halten
Sie fest: Es ist meist nicht das einzelne Zahnrad, was verbessert werden
muss – das reibungslose Ineinandergreifen aller Zahnräder und die
Funktionstüchtigkeit jedes einzelnen Zahnrädchens führt dazu, dass das
Uhrwerk noch besser läuft - und am Ende deutlich mehr Menschen einen
Herz-Kreislauf-Stillstand überleben und damit auch in ihr Leben
zurückkehren können.
Originalpublikation:
Jana Schneeberg Deutsche Gesellschaft für Anästhesiologie und lntensivmedizin e.V.
Neuwieder Straße 9
90411 Nürnberg
Deutschland
Bayern
Telefon: 0911/93378-25
E-Mail-Adresse: jschneeberg@dgai-ev.de
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