Medizin am Abend Berlin - MaAB-Fazit: MHH-Forschung: Jüngere Generation wird früher und häufiger krank als ältere
Eine Forschergruppe der Medizinsoziologie untersucht die Gesundheitsentwicklung in der Bevölkerung und kommt zu überraschenden Ergebnissen.
- Von den Verbesserungen der Lebensbedingungen, den Fortschritten in der Medizin und dem allgemeinen Wissen um eine gesunde Lebensweise profitiert vor allem die ältere Generation.
- Die jüngeren Jahrgänge werden wieder früher und häufiger krank.
Daraus ergeben sich Herausforderungen für das Gesundheitssystem, die Wirtschaft und jeden einzelnen Menschen.
Nicht alle Menschen bleiben bis ins hohe Alter gesund – gerade jüngere Generationen werden wieder früher und häufiger krank. Copyright: Tina Götting/MHH.
Trotz höheren Alters stehen sie mitten im Leben, sind gesund, aktiv und geistig hellwach – die Rede ist von den „jungen Alten“.
Wer heute in Rente geht, hat statistisch gesehen weitaus mehr Lebensjahre vor sich als seine Großeltern.
Die ältere Generation profitiert von den verbesserten Lebensbedingungen nach dem zweiten Weltkrieg: weniger schwere körperliche Arbeit, bessere Ernährung, gute medizinische Versorgung und mehr Gesundheitsbewusstsein.
„Bereits Anfang der 1980er
Jahre stellte der amerikanische Mediziner James Fries die These auf,
dass aufgrund der insgesamt besseren Lebensumstände die Erkrankungsraten
sinken und das Auftreten von Krankheiten und Behinderungen sich nach
hinten in spätere Lebensphasen verschiebt“, erklärt Professor Dr.
Siegfried Geyer, Leiter der Medizinischen Soziologie der Medizinischen
Hochschule Hannover (MHH). Von dieser positiven Perspektive ausgehend
untersuchte Professor Geyer gemeinsam mit seiner Arbeitsgruppe, wie sich
der Gesundheitszustand unterschiedlicher Altersgruppen in der
Bevölkerung entwickelte.
Kompression und Expansion
Professor Geyer und sein Team beschäftigen sich bereits seit 2014 mit
dem Thema „Kompression und Expansion der Morbidität“. So lautet auch der
Titel ihres Forschungsschwerpunkts. Morbidität bezeichnet die
Beeinträchtigung eines Individuums oder einer Bevölkerungsgruppe durch
Krankheit. Von Morbiditätskompression sprechen die Fachleute, wenn
Krankheiten oder Behinderung insgesamt seltener oder im Lebensverlauf
später auftreten. Ist das der Fall, wird gesunde Lebenszeit gewonnen.
Bei einer Morbiditätsexpansion hingegen treten Erkrankung oder
Behinderung insgesamt häufiger oder im Laufe des Lebens früher auf. Ist
das so, geht gesunde Lebenszeit verloren. Die Menschen leben dann mehr
Lebensjahre mit Beeinträchtigungen und Behandlungsbedürftigkeit.
Breites Spektrum an Studien
Für die Übersichtsarbeit werteten die Forschenden nationale und
internationale Studien aus und stellten eigene Recherchen an. Außerdem
nutzten sie Daten der AOK Niedersachsen, die eine breite Sozialstruktur
abbilden. „Wir haben uns den Zeitraum von 2005 bis 2019 angeschaut und
zu verschiedenen Zeitpunkten Kohorten gleichen Alters miteinander
verglichen“, sagt Professor Geyer. Das überraschende Ergebnis: Der sich
früher über Jahre verbessernde Gesundheitszustand der Älteren setzt sich
bei den später geborenen Generationen nicht fort. Diese Entwicklung
findet sich beispielsweise auch für die USA.
Ältere: Bessere Gesundheit und längeres Leben
Der Gesundheitszustand der heutigen älteren Generation, also der
Menschen, die bis in die 1950er und 1960er Jahren geboren wurden, hat
sich deutlich verbessert: Alle Arten von Herzkreislauferkrankungen
nahmen ab oder verschoben sich in ein höheres Lebensalter. Das gleiche
gilt auch für Schlaganfälle und Lungenkrebs, primär bei Männern.
Parallel zum Rückgang des Nikotinkonsums verringerte sich von 2006 bis
2017 die Lungenkrebsrate bei Männern um 31 Prozent. Auch demenzielle
Erkrankungen treten in der Altersgruppe seltener oder später auf. Für
die genannten Erkrankungen fand bei dieser Generation also eine
deutliche Morbiditätskompression statt. „Es gibt bildungs- und
einkommensabhängige Unterschiede, aber insgesamt hat die ältere
Generation deutlich an Gesundheit gewonnen“, betont Professor Geyer.
Jüngere: Schon früh Adipositas und Diabetes Typ 2
Zu den Erkrankungen, deren Rate über alle Altersgruppen hinweg stieg,
gehört Diabetes mellitus Typ 2. Hier stellten die Wissenschaftlerinnen
und Wissenschaftler also eine Morbiditätsexpansion fest.
Besorgniserregend ist, dass die Erkrankung immer häufiger schon im
frühen Erwachsenenalter auftritt. „Das ist mit einer verlängerten
Erkrankungsdauer und einem erhöhten Risiko für Komorbiditäten verbunden,
das heißt, dem zusätzlichen Auftreten von Begleiterkrankungen“, stellt
Professor Geyer fest. Das zeige sich bereits in den Altersgruppen der
18- bis 45-Jährigen. Alarmierend ist auch die Entwicklung von starkem
Übergewicht, Adipositas genannt, in jungen Lebensjahren. So hat sich der
Anteil adipöser Menschen im Alter zwischen 25 und 55 Jahren im Zeitraum
von 2004 bis 2020 fast verdoppelt. Er stieg von insgesamt 12,7 auf 23,4
Prozent an. Adipositas begünstigt wiederum Erkrankungen wie Diabetes
mellitus Typ 2, Bluthochdruck, Herzinfarkt, Schlaganfall und Fettleber.
Herausforderungen für Sozialsystem, Gesundheitsbranche und Wirtschaft
„Die These der Morbiditätskompression von James Fries hat sich in
unserer Untersuchung nur für die heute ältere Generation bestätigt. Sie
ist wesentlich gesünder als die Generation ihrer Eltern und Großeltern.
Diese positive Entwicklung setzt sich aber bei den später Geborenen
nicht fort“, fasst Professor Geyer die Ergebnisse der Übersichtsarbeit
zusammen.
Bei der jüngeren Generation sei eine Morbiditätsexpansion festzustellen.
Der schlechtere Gesundheitszustand gehe zudem einher mit einer demografischen Verkleinerung der Gruppe jüngerer Menschen.
Dies könne enorme Auswirkungen auf die sozialen Sicherungssysteme und die Wirtschaft haben.
„Die Krankheitsfälle werden zukünftig zunehmen und die Gesundheitskosten steigen“, befürchtet der Medizinsoziologe.
Um dem entgegenzuwirken, müssten die Arbeitsbedingungen einzelner Berufsgruppen stärker ins Blickfeld rücken.
Früher galten hauptsächlich körperliche Belastungen und Schadstoffexpositionen als Gesundheitsrisiko.
Heute hingegen ergeben sich Risiken aus überwiegend sitzender Tätigkeit. Professor Geyer:
„Wir bewegen uns zu wenig.
Es bedarf dringend präventiver Maßnahmen am Arbeitsplatz.“
Und auch bei der Ernährung läuft vieles falsch.
Denn während durch die veränderte Lebensweise der notwendige Kalorienbedarf über die Jahre stetig gesunken ist, ist der tatsächliche Kalorienverbrauch ständig gestiegen.
Unabhängig vom Bildungsstand hat sich der Anteil adipöser junger Menschen in den vergangenen Jahren fast verdoppelt. Copyright: Geyer/Sperlich/MHH.
Einen Fachbeitrag über die Arbeit finden Sie unter: https://www.aerzteblatt.de/archiv/228548/Kompression-und-Expansion-der-Morbidita...
Professor Dr. Siegfried Geyer
geyer.siegfried@mh-hannover.de
Stefan Zorn Medizinische Hochschule Hannover
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