Mehr Unterstützung für Long-COVID-Erkrankte
Long COVID ist eine Herausforderung für Betroffene und Behandelnde: Die Diagnostik ist komplex, die Versorgungsstrukturen sind oft unzureichend und bislang gibt es keine heilenden Therapien. Das trifft vor allem die Menschen hart, die an schweren Ausprägungen eines postakuten Infektionssyndroms (PAIS) leiden. Ein neues Forschungsprojekt an der Charité – Universitätsmedizin Berlin soll die Versorgung dieser Patient:innen verbessern. Es wird vom Bundesministerium für Gesundheit mit rund 10 Millionen Euro gefördert.
Nach aktuellen Schätzungen leben derzeit allein in Berlin 200.000 Menschen mit postakutem Infektionssyndrom (PAIS) – also Erkrankungen, die nach der akuten Phase einer Infektion auftreten. Wie es gelingen kann, diese Patient:innen möglichst von Beginn an umfassend medizinisch zu betreuen, wird im Projekt „Post Acute Infectious Syndromes Interdisciplinary Care Berlin“ erforscht. Im Mittelpunkt steht ein strukturiertes Diagnostik- und Therapiekonzept, das an die bestehenden Berliner Strukturen für die interdisziplinäre und sektorübergreifende PAIS-Versorgung andockt. Basis dafür sind die bereits etablierten Netzwerke aus Charité Fatigue Centrum, Post-COVID-Netzwerk der Charité und Long-COVID-Netzwerk der Kassenärztlichen Vereinigung Berlin. Der Startschuss für das Projekt fällt heute mit einer Auftaktveranstaltung an der Charité.
„Wir freuen uns außerordentlich über die Förderung, die es uns ermöglicht, die Versorgung von Patientinnen und Patienten mit postakutem Infektionssyndrom in unserer Stadt nachhaltig zu verbessern. In dem Projekt gehen Forschung und Praxis Hand in Hand, um Lösungen für die Herausforderungen im Gesundheitswesen zu entwickeln. Von den Erkenntnissen werden auch über die Grenzen Berlins hinaus viele Menschen profitieren“, sagt Prof. Martin E. Kreis, Vorstand Krankenversorgung der Charité.
PAIS: Langanhaltende Beschwerden nach Infektionen
Mit dem Projekt soll eine Versorgungslücke geschlossen werden, die Menschen mit Post-COVID-Syndrom (PCS, umgangssprachlich Long COVID) betrifft, aber auch solche, die nach anderen Infektionen erkrankt sind. Man spricht von PCS, wenn drei Monate nach einer SARS-CoV-2-Infektion noch immer gesundheitliche Beschwerden bestehen, die über mindestens zwei Monate andauern und nicht anderweitig zu erklären sind – beispielsweise eine starke, anhaltende Schwäche und Erschöpfung, die auch als Fatigue bezeichnet wird. Weitere Symptome sind unter anderem Kreislauf- und Atembeschwerden, Kopfschmerzen, Konzentrationsschwierigkeiten und Gedächtnisprobleme. Einer aktuellen Übersichtsarbeit zufolge sind etwa fünf Prozent der Bevölkerung von PCS betroffen.
Eine der schwersten Ausprägungen von Long COVID ist die Krankheit Chronisches Fatigue Syndrom/Myalgische Enzephalomyelitis (ME/CFS), die im schlimmsten Fall Betroffene zum Pflegefall werden lässt. Aber auch das Posturale Tachykardie-Syndrom kann zu schweren Einschränkungen führen. Diese Erkrankungen können auch nach verschiedenen anderen Infektionen auftreten und wurden bereits vor der COVID-Pandemie vermehrt beobachtet. Auslöser sind zum Beispiel eine Virusgrippe oder eine Infektion mit dem Epstein-Barr-Virus (Pfeiffersches Drüsenfieber).
Herausforderung Diagnose und Therapie
Da die Symptome des postakuten Infektionssyndroms sehr vielfältig sind, sind Diagnose und Therapie eine große Herausforderung. Die Folge: Vor allem die schwerkranken PAIS-Patient:innen sind derzeit oft unzureichend medizinisch versorgt – auch weil bei Ärztinnen und Ärzten das nötige Wissen darüber begrenzt ist.
„Bereits vor der COVID-19-Pandemie waren in Europa schätzungsweise 300.000 Menschen an ME/CFS erkrankt und die vorliegenden Daten lassen vermuten, dass sich ihre Zahl infolge der Pandemie verdoppelt hat. Studien zeigen, dass die meisten ME/CFS-Erkrankten anhaltend schwer krank sind. Neben der intensiven Suche nach wirksamen Therapien für das postakute Infektionssyndrom brauchen wir deshalb auch Versorgungsstrukturen, innerhalb derer die Betroffenen auf Basis aktueller wissenschaftlicher Erkenntnisse und klinischer Erfahrung interdisziplinär betreut werden“, sagt Prof. Carmen Scheibenbogen, stellvertretende Leiterin des Instituts für Medizinische Immunologie und Leiterin des Projekts.
Strukturiertes Betreuungsprogramm zur umfassenden Versorgung
Im Rahmen des Projekts PAIS Care Berlin werden solche interdisziplinären Versorgungsstrukturen jetzt erprobt und evaluiert. Durch ein strukturiertes Betreuungsprogramm sollen Menschen, die nach einer Infektion anhaltend krank bleiben, frühzeitig und umfassend versorgt werden. Dabei sollen auch Faktoren identifiziert werden, die mit Erholung sowie mit langsamer Genesung oder Chronifizierung in Verbindung stehen.
Hausarztpraxen spielen in dem Projekt eine zentrale Rolle, weil sie für Betroffene oft die erste Anlaufstelle sind und dort die Diagnose gestellt und therapeutische Maßnahmen eingeleitet werden. Schwere oder komplexe Fälle können zeitnah an die sechs beteiligten Hochschulambulanzen überwiesen werden. Auch die Einbindung von Patientenorganisationen und Selbsthilfegruppen ist ein wichtiger Bestandteil des neuen Versorgungskonzeptes.
Bedarfsgerechte Angebote schaffen
Ziel ist es, wissenschaftlich fundierte, bedarfsgerechte Versorgungsangebote zu schaffen, indem bestehende Strukturen vor allem der ambulanten Versorgung besser strukturiert und effizienter gemacht werden und – wo nötig – neue Angebote geschaffen werden. Die Ergebnisse von PAIS Care sollen der Verbesserung der Versorgung aller Betroffenen dienen.
Eine Teilnahme an der Studie ist ab Mai 2025 möglich. Patient:innen, die länger als vier Wochen nach einer Infektion anhaltende Beschwerden wie Fatigue und Leistungsminderung haben und an der Studie teilnehmen möchten, wenden sich dazu an eine der am Projekt teilnehmenden Hausarztpraxen. Weitere Informationen zu dem Projekt und Kontaktdaten gibt es auf der Webseite des Post-Covid-Netzwerks oder des Charité Fatigue Centrums.
Über die PAIS-Forschung an der Charité
Die Charité hat bereits 2018 ein Zentrum zur Erforschung, Versorgung, Beratung und Fortbildung mit Schwerpunkt ME/CFS aufgebaut (Charité Fatigue Centrums). 2021 wurde das Post-COVID-Netzwerk der Charité mit zehn interdisziplinären Ambulanzen für Post-COVID gegründet und ein Fortbildungsprogramm in engem Austausch mit dem Long-COVID-Netzwerk der Kassenärztlichen Vereinigung Berlin (KVB) etabliert. Seit 2022 wird an der Charité auch die Nationale Klinische Studiengruppe NKSG für Therapiestudien bei ME/CFS und Post-COVID vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert. Im Projekt PAIS Berlin, das jetzt neu vom Innovationsfonds gefördert wird, wird die aktuelle Versorgungslage bereits Erkrankter analysiert und eine verbesserte Versorgung für schwer Erkrankte angeboten.
Kontakt:
Prof. Dr. Carmen Scheibenbogen
Leiterin Bereich Immundefekte und Postinfektiöse Erkrankungen,
Institut für Medizinische Immunologie
Leitung Charité Fatigue Centrum
Charité – Universitätsmedizin Berlin
t: +49 30 450 570 400
Dr. Judith Bellmann-Strobl
Hochschulambulanz für Neuroimmunologie
Experimental and Clinical Research Center (ECRC)
Charité – Universitätsmedizin Berlin und Max Delbrück Center
t: +49 30 450 570 400