Medizin am Abend Berlin - MaAB-Fazit: Therapie-Fortschritt nur durch Registerforschung - Angeborene Herzfehler erfordern solide Wissenschaftsbasis
- Die Zahl der Erwachsenen mit angeborenen Herzfehlern (EMAH) wächst kontinuierlich.
- Doch über das Altern mit der häufigsten Organfehlbildung ist noch zu wenig bekannt.
Nur ein Prozent der für EMAH empfohlenen Behandlungsmaßnahmen beruht auf kontrollierten Studien.
Forschende am Kompetenznetz Angeborene Herzfehler drängen auf die gezielte Förderung der multizentrischen Forschung. Diese bleibt auf Daten und Proben aus großen Registern und Biobanken angewiesen.
Es ist ein enormer Fortschritt der Forschung in der Herzmedizin:
Über 90 Prozent der Menschen mit angeborenem Herzfehler erreichen das Erwachsenenalter.
Mit der häufigsten angeborenen Fehlbildung kommt eins von einhundert Kindern zur Welt.
Dank verbesserter chirurgischer und interventioneller Verfahren lassen sich heute selbst schwere Herzfehlbildungen gut korrigieren. Infolgedessen nimmt die Zahl der Erwachsenen mit angeborenen Herzfehlern stetig zu. Schätzungen zufolge wächst die Gruppe der Erwachsenen mit angeborenen Herzfehlern jährlich um fünf Prozent.
Schon heute stellen erwachsene Patienten mehr als zwei
Drittel aller Betroffenen.
Ein angeborener Herzfehler bleibt
Doch geheilt sind die meisten nicht.
- Insbesondere bei mittelschweren oder schweren Herzfehlern ist das Risiko hoch, vorzeitig an Herzversagen, an Herzrhythmusstörungen, einer infektiösen Endokarditis oder in Folge einer erneuten Operation zu versterben.
Die auf diesem
Gebiet noch junge Forschung konzentriert sich daher zunehmend auf die
Beantwortung von Fragen nach der optimalen Art und Weise der Versorgung,
den besten Behandlungsoptionen für verbleibende Komplikationen oder der
Risikoabschätzung für nachteilige Folgen.
Erschwerte Forschung
Für verlässliche Ergebnisse sind die Forschenden auf eine breite
Datengrundlage angewiesen. Und genau hier liegt die Krux, wie der
Vorstandsvorsitzende des Kompetenznetz Angeborene Herzfehler Professor
Anselm Uebing erläutert:
„Bei angeborenen Herzfehlern haben wir es mit einer Vielzahl von Diagnosen zu tun, die für sich genommen selten sind.
Die Krankheitsbilder reichen von einfachen Ventrikelseptumdefekten bis hin zu komplexen Fehlbildungen wie Einkammerherzen.
Einige gehen mit weiteren Organfehlbildungen einher und verursachen extrakardiale Begleiterkrankungen.
Dabei haben die Betroffenen jeweils ihre eigene,
einzigartige Patientengeschichte von Operationen und Eingriffen,
Folgeerkrankungen, Komplikationen oder Wechselwirkungen mit anderen
altersbedingten Erkrankungen. Entsprechend schwierig ist es, an genügend
Daten für aussagefähige Studienergebnisse heranzukommen.“
Evidenzlücke mit Folgen
Dabei gibt es längst große multizentrische Register, die solche
Forschungs-grundlagen zur Verfügung stellen, wie das Nationale Register
für angeborene Herzfehler. Seit mehr als zwanzig Jahren sammelt die
international renommierte Forschungsinstitution freiwillig gespendete,
medizinische Daten von Patientinnen und Patienten mit angeborenen
Herzfehlern und bereitet diese für die Forschung auf. Mehr als 50.000
Kindern und Erwachsene unterstützen auf diese Weise die internationale
Forschung. Die Biobank des Nationalen Registers verfügt über Biomaterial
von über 10.000 Patientinnen und Patienten.
„Das Register am Kompetenznetz ist eine weltweit einmalige
Forschungsbasis. Doch noch wird die Aufrechterhaltung solcher Strukturen
einer patientenorientierten Forschung auf unserem Spezialgebiet nicht
nachhaltig genug finanziert und gefördert. Damit hinkt die Wissenschaft
auf dem Gebiet der angeborenen Herzfehler teils gezwungener Maßen den
durch sie ermöglichten Fortschritten hinterher“, stellt Professor Anselm
Uebing fest. Das hat Folgen: „Weniger als ein Prozent aller
Empfehlungen für das Therapieregime bei angeborenen Herzfehlern beruhen
auf Daten aus kontrollierten Studien. Diese Evidenzlücke macht uns
zunehmend Sorge“, so der Kinderkardiologe.
Forschungskooperationen mit den Kassen
Hinzu käme, dass es für eine bestmögliche Versorgung der Patienten bis
ins hohe Alter entscheidend sei, vergleichende Analysen durchführen zu
können, die auch die Allgemeinbevölkerung berücksichtigen. Große
Hoffnungen werden inzwischen in den Einsatz von Big Data und Künstlicher
Intelligenz für entsprechende Langzeitstudien auf breiter
Datengrundlage, etwa auch mit den systematisch erfassten
Versorgungsdaten von Krankenkassen, gesetzt.
Wie wichtig solche neuen Wege in der Forschung sind, zeigt auch das
jüngste einer Reihe von Studienergebnissen der Forschungsgruppe um den
EMAH-Spezialisten Professor Gerhard-Paul Diller aus Münster, die das
European Heart Journal in den vergangenen zwei Jahren veröffentlicht
hat.
Alarmierendes Ergebnis
Die unlängst publizierte Studie auf Grundlage von Daten der Barmer
Krankenkasse hat ergeben, dass ein Immunschwächedefizit bei angeborenen
Herzfehlern häufiger vorkommt als bislang angenommen.
Die
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler konnten dafür auf medizinische
Daten von mehr als 50.000 Versicherten mit angeborenen Herzfehlern
zugreifen und sie mit denen von entsprechenden Kohorten ohne angeborene
Herzfehler aus der Gruppe der insgesamt rund 9 Millionen Versicherten
vergleichen.
- „Immundefekte kennen wir von genetisch bedingten syndromalen Erkrankungen wie beispielsweise dem DiGeorge-, dem Down- oder dem CHARGE-Syndrom.
- Dass das Risiko dafür über das gesamte Spektrum von angeborenen Herzfehlern hinweg bedeutend höher liegt als bei Menschen ohne angeborenen Herzfehler, ist neu und hat uns überrascht.
Vor allem aber zeigt die Studie, dass ein Immundefekt ein klarer Risikofaktor für die Notfalleinweisung ins Krankenhaus und ein frühzeitiges Versterben ist“, betont der auf strukturelle Herzerkrankungen spezialisierte Humangenetiker und Kinderarzt Professor Marc-Phillip Hitz.
„Das
verdeutlicht einmal mehr, wie entscheidend sowohl die hoch
spezialisierte Nachsorge bei angeborenen Herzfehlern als auch eine
fachübergreifende Zusammenarbeit, in diesem Fall mit den Immunologen,
ist.“
Tiefere Erforschung ist Muss
Die Erkenntnisse solcher Studien helfen, die Gesundheitsversorgung und
das Patientenmanagement bei angeborenen Herzfehlern zu verbessern. Sie
geben zudem wichtige Hinweise für die weitere Forschung: „Die bei 5,6
Prozent der Patienten diagnostizierten Immundefekte könnten eine
gemeinsame genetische Ursache mit den angeborenen Herzfehlern haben.
Denkbar ist, dass bestimmte Veränderungen in den Genen sowohl für die
Beeinträchtigung der Immunzellen als auch für die Fehlentwicklung des
Herzens verantwortlich sind“, erklärt Professor Marc-Phillip Hitz.
Auch sei nicht auszuschließen, dass die Entfernung des Thymus, die üblicherweise Teil der neonatalen Herzchirurgie bei angeborenen Herzfehlern ist, zu einer veränderten Immunfunktion beiträgt.
„So etwas müssen wir dringend genauer wissen, um therapeutisch gegensteuern zu können.“
Ohne Zusammenspiel mit der Registerforschung kein Therapiefortschritt
Dazu benötigen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler allerdings detailliertere Daten als sie den Krankenkassen zur Verfügung stehen. „Ohne phänotypisch gut beschriebene Patientenkohorten, detaillierte Angaben zum jeweiligen klinischen Verlauf, zum Beispiel zu den infektiösen Episoden, den Symptomen, zur Abfolge und Art der Eingriffe, zu begleitenden Erkrankungen oder zu den Blutbefunden und ohne Zugang zu Biomaterial für die molekular-biologische Forschung kommen wir nicht weiter“, so der Humangenetiker. Das bleibt Aufgabe multizentrischer Register und Biobanken.
Auf das kluge Zusammenspiel der Forschung mit den breiten Datensätzen der Krankenkassen und der multizentrischen Registerforschung wird es in Zukunft für die Lebensqualität und Prognose von immer mehr Menschen ankommen. Es geht um eine evidenzbasierte Patientenversorgung und damit um viel.
Prof. Dr. med.
Anselm Uebing, Direktor der Klinik für angeborene Herzfehler und
Kinderkardiologie des Universitätsklinikums Schleswig-Holstein, Campus
Kiel, Tel.: +49 (0) 431 50025602, E-Mail: anselm.uebing@uksh.de
Prof. Dr. med. Marc-Phillip Hitz, Direktor des Universitätsinstituts für
Medizinische Genetik am Klinikum Oldenburg der Universitätsmedizin
Oldenburg, Tel.: +49 (0) 441 4032408, E-Mail:
medizinische.genetik@klinikum-oldenburg.de
Karin Lange Kompetenznetz Angeborene Herzfehler
Augustenburger Platz 1
13353 Berlin
Deutschland
Berlin
Telefon: 030 4593 7277
E-Mail-Adresse: k.lange@kompetenznetz-ahf.de
Originalpublikation:
How can we improve the evidence base for the treatment and care for patients with congenital heart disease?
Uebing A, Hitz MP
European heart journal, (2023).
Weitere Informationen für international Medizin am Abend Berlin Beteiligte
https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/36747474/
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