Medizin am Abend Berlin - MaAB-Fazit: Unterschätzt und unterdiagnostiziert: Migräne ist nicht einfach nur ein Kopfschmerz
Jedes Jahr am 12. September findet der Europäische Kopfschmerz- und Migränetag statt.
Mit ihm machen die European Migraine & Headache Alliance (EMHA) sowie zahlreiche nationale Vereinigungen auf Kopfschmerzerkrankungen, Versorgungsdefizite und Prävention aufmerksam.
In der Universitätsmedizin Würzburg laufen verschiedene Studien zur verbesserten Diagnostik und Behandlung der Migräne, für die noch Teilnehmende gesucht werden.
QEEG-Messung eines Probanden während einer Verhaltensentscheidung Sebastian Evers / UKW
Obwohl Kopfschmerzerkrankungen zu den häufigsten neurologischen Erkrankungen gehören, werden sie in der Öffentlichkeit nicht als ernsthaft wahrgenommen, da sie meist nur episodisch auftreten, nicht ansteckend sind und in der Regel nicht zum Tod führen.
Doch Kopfschmerzen sind nicht nur schmerzhaft, sie können auch das Familien-, Sozial- und Berufsleben beeinträchtigen.*
Laut einer Studie des Robert
Koch Instituts ist jeder zweite Bundesbürger mindestens einmal im Jahr
von Kopfschmerzen betroffen. 14,8 % der Frauen und 6,0 % der Männer
erfüllen die kompletten Kriterien für Migräne. 10,3 % der Frauen und 6,5
% der Männer sind von Spannungskopfschmerzen betroffen.
Kopfschmerzen werden in Umfang und Ausmaß der Belastung oft unterschätzt
Der European Migraine & Headache Alliance (EMHA) zufolge ist die
Migräne die dritthäufigste Krankheit der Welt; etwa eine von sieben
Personen leidet unter Migräne, die ihren Alltag und ihre Lebensqualität
auch über die reine Zeit der Attacken hinaus stark einschränkt**.
Doch warum kennen wir so wenige Betroffene?
„Weil Kopfschmerzerkrankungen in
ganz Europa nach wie vor zu wenig diagnostiziert und behandelt werden.
Viele Betroffenen leiden leise, schätzungsweise jeder zweite behandelt
sich selbst, statt professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen“, weiß
Prof. Dr. Claudia Sommer, leitende Oberärztin in der Neurologischen
Klinik und Poliklinik am Universitätsklinikum Würzburg (UKW) und
Leiterin des Projekts „Approach and avoidance behaviour in pain
management“ im von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG)
geförderten Graduiertenkolleg 2660. Mit dem Europäischen Kopfschmerz-
und Migränetag will die EMHA das Bewusstsein für diese unterschätzte
Krankheit schärfen. Das UKW nimmt diesen Tag zum Anlass, um über seine
Migräneforschung zu berichten.
Claudia Sommer leitet gemeinsam mit Andrea Kübler, Professorin für
Psychologie an der Universität Würzburg, derzeit drei
ineinandergreifende Studien, um die Diagnose und Therapie von Migräne zu
verbessern. Zum einen wollen die beiden Forscherinnen, die im
Research.com-Ranking unter den besten 100 Wissenschaftlerinnen in
Deutschland und unter den besten 1.000 weltweit gelistet sind, die
Pathophysiologie der Migräne besser verstehen, also wie der Körper unter
den krankhaften Veränderungen abweichend funktioniert und welche
Funktionsmechanismen zur krankhaften Veränderung führen. Zum anderen
erproben sie mit ihren Teams neue Ansätze zum Umgang mit
Migränetriggern, also Auslösern von Attacken. „Dem adäquaten
Triggermanagement kommt großes Potential in der Verbesserung des Lebens
von Menschen mit Migräne zu“, betont Claudia Sommer.
Stress, Dehydrierung und der Menstruationszyklus als häufigste Trigger von Migräneattacken
So wurden in einer Fragebogenstudie mit bislang insgesamt 432
Migränepatientinnen und -patienten Stress, Dehydrierung und der
Menstruationszyklus als häufigste Trigger von Attacken identifiziert,
wovon allerdings nicht alle gut vermieden werden können. Auch zeigten
sich Korrelationen von Triggersensitivität mit Markern für schlechtere
Lebensqualität. Vorläufige Daten wurden auf dem World Congress on Pain
2022 im kanadischen Toronto veröffentlicht.
Verbesserte Probenentnahme und Messung des CGRP-Spiegels bei Migränepatienten
In einer weiteren Studie steht das Calcitonin Gene-Related Peptide
(CGRP) im Fokus.
„Migräne gilt als eine neuronale Erregbarkeitsstörung, bei der das trigeminovaskuläre System, also das Zusammenspiel von Nerven und Blutgefäßen in den Hirnhäuten, eine Schlüsselrolle zu spielen scheinen“, erläutert Morgane Paternoster, Doktorandin in der Würzburger Neurologie.
- Bekannt ist, dass der Beginn eines Migräneanfalls mit einem Anstieg entzündungsfördernder Moleküle und Neuropeptide verbunden ist, darunter das CGRP.
- Das aus 37 Aminosäuren bestehende Neuropeptid zählt zu den stärksten gefäßerweiternden Substanzen, den so genannten Vasodilatatoren.
- Wenn also die durch äußere und innere Stimuli getriggerten Nerven vermehrt CGRP freisetzen, wird das trigeminovaskuläre System aktiviert.
Für die neurobiologische Charakterisierung einer Migräne wurden bislang in der Neurologischen Klinik am UKW die CGRP-Spiegel von 136 Patientinnen und Patienten mit und ohne Migräne untersucht und verglichen.
Um die zuverlässigste Methode zur Probenentnahme und
-messung des CGRP-Spiegels festzulegen wurde von allen Teilnehmenden
Blut, Tränenflüssigkeit und Speichel gesammelt. „Eventuell könnten im
Zuge einer personalisierten Medizin anhand der CGRP-Spiegel Vorhersagen
über das Ansprechen des einzelnen Patienten auf CGRP-Hemmer getroffen
werden. Neueste Publikationen zeigen diesbezüglich vielversprechende
Ergebnisse“, kommentiert Morgane Paternoster. Erste Ergebnisse der
Würzburger CGRP-Kohorte werden im November 2023 auf dem Society for
Neuroscience Kongress im US-amerikanischen Washington D.C. präsentiert.
Neurofeedback für bewusstes und ausgeglichenes Verhalten zu Auslösern
In der dritten Studie untersucht das interdisziplinäre Team den
möglichen Einsatz von Neurofeedback zur Unterstützung der
Migränebehandlung.
„Da viele Betroffene bestimmte Trigger ihrer Migräne
identifizieren können, ist der Umgang mit diesen Auslösern ein
vielversprechender Ansatz für eine solche Unterstützung“, erklärt
Morgane Paternoster. Zu diesem Zweck finden in Kooperation mit der
Universität Würzburg hochauflösende EEG-Messungen an je 30 Personen mit
und ohne Migräne statt. Während der Messung der Gehirnaktivität mit 128
Elektroden werden die Studienteilnehmenden mit bestimmten Triggern
konfrontiert und daraufhin vor Verhaltensentscheidungen gestellt.
„Hierdurch möchten wir die Gehirnprozesse identifizieren, die am
Vermeidungsverhalten von Menschen mit Migräne beteiligt sind, und das
beste Stimulationsziel für eine Neurofeedback-Modulation auswählen.
Dadurch sollen die Betroffenen ein ausgeglichenes und bewusstes
Verhalten zu den individuellen Auslösern ihrer Migräne erlangen.
Zusätzlich soll eine objektive Messmethode zur Ermittlung des
Vermeidungsverhaltens von Menschen mit Migräne etabliert werden“,
beschreibt Sebastian Evers, ebenfalls Doktorand in der Arbeitsgruppe von
Claudia Sommer, die Ziele der Studie.
Die ersten Ergebnisse werden Ende des Jahres erwartet, auf deren
Grundlage die ersten Neurofeedback-Sitzungen in der Mitte nächsten
Jahres gestartet werden sollen.
MaAB - CAVE: Weitere Studienteilnehmende werden gesucht
- Das Team von Prof. Dr. Sommer ist immer auf der Suche nach neuen Studienteilnehmenden, die an Migräne leiden und die Diagnostik und Behandlung verbessern möchten. Betroffene können sich bei Interesse und für weitere Informationen gerne bei Morgane Paternoster und Sebastian Evers melden:
- Paternoste_M(at)ukw.de oder Evers_S(at)ukw.de
Salomea Löffl (links) und Morgane Paternoster bei der Probenanalyse im Labor Sonja Gommersbach / UKW
Typische Kopfschmerzerkrankungen
Kopfschmerzen können durch eine lebensbedrohliche Erkrankung wie etwa
ein Hirntumor verursacht werden. In den meisten Fällen handelt es sich
bei Kopfschmerzerkrankungen jedoch um eine gutartige, nicht
lebensbedrohliche Erkrankung, die allerdings mit einem hohen
Leidensdruck einhergeht.
Die häufigsten Kopfschmerzerkrankungen sind Migräne und
Spannungskopfschmerz.
Während der dumpf, ziehende und beidseitig vorkommende Spannungskopfschmerz oft als normaler Kopfschmerz wahrgenommen wird, ist die Migräne mit Übelkeit und/oder Erbrechen sowie einer Überempfindlichkeit gegenüber Licht und Geräuschen verbunden.
- Charakteristisch für die Migräne ist ein pulsierender oder pochender, einseitiger Schmerz, der durch körperliche Aktivität verstärkt wird.
- Bei einer Migräne mit einer so genannten Aura kommen noch Flimmern oder Blitzen vor den Augen sowie Schwäche, Lähmung oder Taubheitsgefühl eines Armes oder Beines oder Sprachstörungen hinzu.
- Ferner gibt es das Syndrom des chronischen täglichen Kopfschmerzes sowie die eher seltenen Erkrankungen Clusterkopfschmerz und Trigeminusneuralgie.
Gelegentliche Kopfschmerzen sind in der Regel harmlos und verschwinden oft schon mit einem Spaziergang an der frischen Luft, ausreichend Schlaf und Flüssigkeitszufuhr oder einer einzelnen Tablette.
Treten starke
Kopfschmerzen jedoch gehäuft auf, sollte ein Arzt oder eine Ärztin
konsultiert werden, bei plötzlichen und extrem starken Kopfschmerzen ist
der Notarzt zu rufen.
* Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) gehört allein die
Migräne zu den zehn häufigsten Ursachen für Arbeitsunfähigkeit und
betrifft 12-15 % der Bevölkerung. Die verlorenen Arbeitstage und
Produktivitätseinbußen kosten die europäische Wirtschaft jährlich 27
Milliarden Euro (Cost of Brain Disorders in Europe, 2006)
** Stovner, L. J., Nichols, E., Steiner, T. J., Abd-Allah, F.,
Abdelalim, A., Al-Raddadi, R. M., Ansha, M. G., Barac, A., Bensenor, I.
M., Doan, L. P., Edessa, D., Endres, M., Foreman, K. J., Gankpe, F. G.,
Gopalkrishna, G., Goulart, A. C., Gupta, R., Hankey, G. J., Hay, S. I., .
. . Murray, C. J. L. (2018). Global, regional, and national burden of
migraine and tension-type headache, 1990–2016: a systematic analysis for
the Global Burden of Disease Study 2016. The Lancet Neurology, 17(11),
954-976. https://doi.org/https://doi.org/10.1016/S1474-4422(18)30322-3
Unterschätzt und unterdiagnostiziert: Migräne ist nicht einfach nur ein Kopfschmerz
Prof. Dr. Claudia Sommer, sommer_c(at)ukw.de
01062 Dresden
Deutschland
Sachsen
Katrin Presberger
Weitere Informationen für international Medizin am Abend Berlin Beteiligte
https://ls1.psychologie.uni-wuerzburg.de/so/mig/ Link zur Migräne-Studie
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