Medizin am Abend Berlin - MaAB-Fazit: Neurowissenschaftliche Studie: Über das Nervenwasser lassen sich neurologische Krankheiten genauer diagnostizieren
Eine neue Studie von Neurowissenschaftlerinnen und Neurowissenschaftlern der Westfälischen Wilhelms-Universität (WWU) Münster zeigt:
- Ein Blick in die Flüssigkeit, die Gehirn und Rückenmark umhüllt und schützt, macht genauere Diagnosen möglich.
Die Studienergebnisse sind jetzt im Fachjournal „BRAIN“ veröffentlicht.
Dr. Andreas Schulte-Mecklenbeck, Klinikdirektor Prof. Heinz Wiendl, Dr. Catharina Groß und Dr. Gerd Meyer zu Hörste (v.l.) im Labor der Klinik für Neurologie E. Deiters-Keul WWU - E. Deiters-Keul
Ein Flackern vor den Augen, Taubheit in den Beinen oder Unsicherheit beim Gehen:
Zeigen junge Erwachsene diese Symptome, sind sie verunsichert – zu Recht, denn damit steht eine ganze Reihe gravierender neurologischer Verdachtsdiagnosen im Raum.
Es könnte sich um Multiple Sklerose handeln, um Neuromyelitis optica oder eine autoimmune Enzephalitis – vielleicht aber auch etwas ganz Harmloses.
Meist beginnt eine Odyssee von Fachärzten zu Spezialkliniken und wieder zurück – die künftig aber vermeidbar sein dürfte:
Eine neue Studie von Neurowissenschaftlerinnen und Neurowissenschaftlern der Westfälischen Wilhelms-Universität (WWU) Münster zeigt:
Ein Blick in die Flüssigkeit, die Gehirn und Rückenmark umhüllt und schützt, macht genauere Diagnosen möglich.
Die Studienergebnisse sind jetzt im Fachjournal „BRAIN“
veröffentlicht.
Die Suche nach oligoklonalen Banden im Nervenwasser dauert Tage, die
nach möglichen infektiösen Erregern zieht sich manchmal Wochen hin;
Magnetresonanz-Tomographien von Gehirn und Rückenmark werden über Monate
beobachtet.
Eine Alternative besteht in der Analyse des sogenannten Liquors:
Sie ist seit Langem ein diagnostisches Verfahren in Neurologie und Psychiatrie, denn das Zellmuster in der Flüssigkeit ist bei vielen neurologischen und psychiatrischen Erkrankungen auf eine spezifische Art verändert.
Das volle Potenzial dieser Untersuchung bleibt jedoch meist ungenutzt:
Bei diesem Ansatz müssen die Immunzellen im Liquor eingehend charakterisiert werden – dafür sind komplexe Technik sowie geschultes Personal notwendig.
Und: Das Verfahren ist teuer.
Nur wenige akademische
Zentren bieten daher entsprechende Analysen an – darunter die
münstersche Uniklinik für Neurologie.
- Das dortige Labor ist eine der wenigen Einrichtungen weltweit, die Liquorzellen sammelt und routinemäßig mittels Multiparameter-Durchflusszytometrie analysiert – und das schon seit einem Jahrzehnt.
Daher konnte das Forschungsteam für seine Studie auf
einen Datensatz von 12.000 Nervenwasser-Analysen zurückgreifen, für die
sogar passende Blutproben derselben Patienten vorlagen. Die
Arbeitsgruppe analysierte Daten von 777 Patienten mit unterschiedlichen
neurologischen Erkrankungen vom Schlaganfall über die Multiple Sklerose
bis zur Demenz. „Dabei haben wir fünf Marker gefunden, die uns ziemlich
sicher anzeigen, dass der betreffende Patient an einer entzündlichen
Erkrankung des Nervensystems leidet. Die Marker funktionierten in 76
Prozent aller untersuchten Fälle – das ist eine enorm hohe Quote“,
berichtet Erstautorin und Laborleiterin Dr. Catharina Groß.
Das bedeutet:
Bei drei von vier untersuchten Patienten hätte allein die Liquorprobe ausgereicht, um die Nervenentzündung eindeutig zu diagnostizieren.
So lässt sich vorerst allerdings nur feststellen, dass eine autoimmune Entzündung des Nervensystems vorliegt, nicht aber, welche Krankheit genau sie auslöst.
Dr. Gerd Meyer zu Hörste, Co-Autor der BRAIN-Publikation, spricht daher von „krankheitsübergreifenden Parametern“.
Doch der Blick in den Liquor kann noch mehr:
Er ermöglicht auch die besonders schwierige Differenzierung verschiedener Entzündungserkrankungen im zentralen Nervensystem.
„Hier fehlten uns
bisher spezifische Biomarker – und die haben wir jetzt gefunden“,
resümiert Prof. Heinz Wiendl, Direktor der Klinik für Neurologie und
Koordinator der Studie.
Ausschließlich anhand der im Liquor gefundenen Zelltypen können die
Wissenschaftler feststellen, ob junge Patienten, die entsprechende
Symptome zeigen, an einer schubförmig-remittierenden Multiplen Sklerose,
einer Neuromyelitis Optica oder an einem Susac-Syndrom leiden.
„Ein Beispiel:
Kommen Plasmazellen im Liquor vor und gibt es gleichzeitig eine intrathekale IgG-Synthese, dann hat der Patient mit hoher Wahrscheinlichkeit eine schubförmige MS.
‚Hoch‘ heißt hier: zwischen 82
und 91 Prozent“, erläutert Dr. Andreas Schulte-Mecklenbeck, der die
Studie maßgeblich mit umgesetzt hat.
Dieses Wissen ist für die Therapie von enormer Bedeutung:
Die meisten neurologischen Erkrankungen schreiten unwiderruflich fort, wenn sie nicht früh und vor allem korrekt behandelt werden.
Das allerdings setzt eine richtige Diagnose voraus.
„Die kann dank unserer Erkenntnisse nun deutlich schneller und sicherer erfolgen“, sagt Prof. Wiendl.
Dr. Catharina Groß
Klinik für Neurologie mit Institut für Translationale Neurologie; UKM
catharina.gross@ukmuenster.de
Dr. Kathrin Kottke, Westfälische Wilhelms-Universität Münster
Telefon: 0251832199
E-Mail-Adresse: kathrin.kottke@uni-muenster.de
Schlossplatz 2
48149 Münster
Deutschland
Nordrhein-Westfalen
Originalpublikation:
Gross CC, Schulte-Mecklenbeck A, Madireddy L, Pawlitzki M, Strippel C, Räuber S, Krämer J, Rolfes L, Ruck T, Beuker C, Schmidt-Pogoda A, Lohmann L, Schneider-Hohendorf T, Hahn T, Schwab N, Minnerup J, Melzer N, Klotz L, Meuth SG, Hörste GMZ, Baranzini SE, Wiendl H. (2021) Classification of neurological diseases using multi-dimensional cerebrospinal fluid analysis. Brain. doi: 10.1093/brain/awab147
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