Medizin am Abend Berlin - MaAB-Fazit: Triage und COVID-19: Handeln bei dilemmatischer Entscheidung
Triagieren, also bei knappen Ressourcen entscheiden, wer im Fall vieler Hilfsbedürftiger zuerst versorgt wird, muss medizinisches Personal normalerweise in Katastrophenfällen oder Kriegen.
Die Corona-Pandemie hat die Triage-Frage erneut aufgeworfen.
An der Universität Augsburg haben Juristen und eine Moraltheologin Stellungnahmen vorgelegt wie eine solche Dilemmasituation in der aktuellen Pandemie behandelt werden kann.
Im Gegensatz zum Deutschen Ethikrat fordern beide Disziplinen vom Gesetzgeber eine Regelung der Triage-Entscheidung.
Nach mehreren Monaten der Pandemie sind die Infektionszahlen auf einem neuen Höhepunkt.
Die sogenannte zweite Welle ist da und könnte wie die erste die Frage aufwerfen, ob es genügend Beatmungsgeräte, Intensivbetten, Pflegepersonal, Medikamente oder andere Rettungs- bzw. Hilfsmittel gibt.
- Nach welchen Kriterien medizinisches Personal in Knappheitssituationen entscheidet wie Hilfsmittel auf Patienten und Patientinnen verteilt werden, ist auch eine ethische wie eine juristische Frage.
An der Universität Augsburg haben
Rechtwissenschaftler und eine Moraltheologin Einschätzungen vorgelegt,
die das Dilemma um die sogenannte Triage beleuchten und den Gesetzgeber
in die Pflicht nehmen.
Kerstin Schlögl-Flierl, Professorin für Moraltheologie, und der
Professor für Öffentliches Recht, Medizinrecht und Rechtsphilosophie
Josef Franz Lindner widmen sich der ethischen und rechtlichen Dimension
des Themas im zweiten Essay des Zentrums für Interdisziplinäre
Gesundheitsforschung, ZIG. Der Aufsatz „Rechtmäßiges Handeln in der
dilemmatischen Triage-Entscheidungssituation“ des Augsburger Professors
für Straf- und Medizinrecht Michael Kubiciel erschien in der Zeitschrift
für Medizinstrafrecht.
Erfolgsaussicht und Bedürftigkeit
„In der Moraltheologie wie im Recht gilt der Grundsatz ‚Ultra posse nemo
tenetur‘:
Man kann in manchen Situationen nicht mehr als das
Menschenmögliche leisten“, erklärt Schlögl-Flierl. Dieses
Menschenmögliche indes kann die Entscheider in dilemmatische, ja
traumatisierende Situationen führen, sollte eine Triage nötig werden,
denn grundsätzlich hat jeder Patient, jede Patientin das Recht auf
Gleichbehandlung. „Jede Entscheidung über die Verteilung der Ressourcen –
ebenso wie eine Nicht-Entscheidung – führt unweigerlich zum Verlust von
Menschenleben“, sagt Kubiciel. Eine Triage verletzt vor allem den
medizinethischen Standard der Gerechtigkeit. „Sie kann nur Ultima Ratio
sein“, so die Moraltheologin Schlögl-Flierl.
Wie aber sollen Ärzte und Ärztinnen entscheiden im Triage-Fall, an
welchen Kriterien sich orientieren?
Alter, Herkunft, Systemrelevanz, gesellschaftlicher Status oder Behinderung sind als Kriterien unethisch.
Im Triagefall wird darum neben der individuellen Erfolgsaussicht der
Patientinnen und Patienten ihre medizinische Bedürftigkeit wichtig. „Es
braucht aus ethischer Sicht eine auf den Patienten abgestellte
Entscheidung in Kombination von Bedürftigkeit und Prognose“, schreiben
Schlögl-Flierl und Lindner.
Scores, die medizinischem Personal helfen, mit diesen beiden Kriterien
die Patienten und Patientinnen zu triagieren, haben die medizinischen
Fachgesellschaften vorgelegt. Deren klinisch-ethische Empfehlungen bzw.
ihre Entscheidungskriterien und Abläufe schätzen Juristen, auch Michael
Kubiciel und seine Co-Autoren, grundsätzlich valide ein.
Rechtssicherheit jedoch geben sie nicht.
Gesetzlich nicht geregelt
Eine konkrete Handlungsanleitung für medizinisches Personal wie knappe
Rettungsmittel zu verteilen wären, fehlt jedoch in der deutschen
Gesetzgebung.
Weder das Infektionsschutz- noch das Katastrophenrecht halten entsprechende Regelungen bereit.
Ärzte und Ärztinnen müssen diese
Entscheidung mit Fachkollegen, ihren Krankenhäusern und ihrem Gewissen
treffen. „Damit“, so Rechtswissenschaftler Kubiciel „tragen Ärztinnen
und Ärzte die volle moralische Verantwortung und zudem erhebliche
Rechtsrisiken.“
- Interessanterweise existiert für Spenderorgane eine ähnliche Ausgangslage: mangelnde Ressourcen bei vielen Bedürftigen.
- Hier gibt es mit dem Transplantationsgesetz jedoch eine gesetzliche Regelung.
- Für Rettungsmittel gelten die allgemeinen straf- und medizinrechtlichen Regelungen.
Nach dem Strafrecht wäre ein Unterlassen ärztlicher Hilfe grundsätzlich
strafbar.
„Der allgemeine Grundsatz ‚impossibilium nulla est obligigatio‘ – keine Pflicht bei tatsächlicher Unmöglichkeit – gilt auch im Medizin- und Strafrecht.
- Kann ein beatmunsbedürftiger Patient mangels eines Beatmungsplatzes und mangels tatsächlicher Verlegungsoptionen nicht behandelt werden, entfällt die Strafbarkeit nach §§ 212 und 13 des Strafgesetzbuches“, erklärt Medizinrechtler Lindner.
Rechtssicherheit nötig
Schon im Frühsommer hatte sich der Deutsche Ethikrat mit einer
Ad-hoc-Stellungnahme zum Thema Triage geäußert. Das Gremium riet dem
Gesetzgeber von einer gesetzlichen Regelung ab und verwies die Ärzte auf
ihre Gewissensentscheidung. Schlögl-Flierl und Lindner schreiben: „Der
deutliche Rekurs des Ethikrates auf das Gewissen muss aus moralischer
Sicht hinterfragt werden. Das Gewissen nimmt hier schon fast eine
Platzhalterfunktion für die fehlende Entscheidung (oder auch
Entscheidungskraft bzw. -willen) des Gesetzgebers ein.“
Normative Handlungsorientierung und Rechtssicherheit seien das Mindeste,
was Mediziner in dieser Situation verlangen können, erklärt Michael
Kubiciel.
„Ihnen die ‚Primärverantwortung‘ für die Auflösung von
Konfliktlagen zuzuschreiben und sie auf eine individuelle
‚Gewissensentscheidung‘ zu verweisen, hieße, sie in dieser moralischen
Grenzsituation allein zu lassen und sie zudem mit erheblichen
rechtlichen Risiken zu belasten.“
- Wichtig ist Jurist Kubiciel noch dieser Aspekt:
- „Werden Patienten trotz einer bestehenden medizinischen Indikation von vornherein nicht intensivmedizinisch behandelt, weil andere Patienten mit einer gleichen oder besseren klinischen Erfolgsaussicht versorgt werden, handeln Ärzte und Ärztinnen rechtmäßig.
- Sie handeln nicht lediglich entschuldigt.“
Ethisches und rechtliches Postulat, schreiben Schlögl-Flierl und
Lindner, sei es jedoch vor allem, dafür zu sorgen, dass eine
Triage-Situation gar nicht erst eintrete.
Das Zentrum für Interdisziplinäre Gesundheitsforschung
… wurde 2014 als zentrale Einrichtung an der Universität Augsburg
gegründet. Derzeit vereint das ZIG rund 65 Forscherinnen und Forscher
aus allen acht Fakultäten der Universität Augsburg, sieben Einrichtungen
der Universität sowie assoziierte Mitglieder aus der Region Augsburg.
Gemeinsam mit Kooperationspartnern außerhalb der Universität arbeiten
die Forscherinnen und Forscher an zentralen Fragen zu Gesundheit und
Krankheit, zur Medizin und zum Gesundheitssystem. Unterstützt und
begleitet wird der Auf- und Ausbau des Forschungszentrums durch einen
hochkarätig besetzten Beirat aus Politik und Gesellschaft.
Prof. Dr. Kerstin Schlögl-Flierl
Lehrstuhlinhaberin Moraltheologie
Telefon: 0821 598 -2636; E-Mail: kerstin.schloegl-flierl@kthf.uni-augsburg.de
Prof. Dr. Josef Franz Lindner
Lehrstuhl für Öffentl. Recht, Medizinrecht und Rechtsphilosophie
Telefon: +49 (0)821 598-4970, E-Mail: josef.lindner@jura.uni-augsburg.de
Prof. Dr. Dr. h.c. Michael Kubiciel
Lehrstuhlinhaber Deutsches, Europäisches und Internationales Straf- und Strafprozessrecht, Medizin- und Wirtschaftsstrafrecht
Telefon: +49 (0)821 598-4560; E-Mail: sekretariat.kubiciel@jura.uni-augsburg.de
Universitätsstr. 2
86159 Augsburg
Deutschland
Bayern
Corina Härning
Telefon: 0821/598-2098
E-Mail-Adresse: corina.haerning@presse.uni-augsburg.de
Originalpublikation:
https://www.medstra-online.de/ausgaben/die-aktuelle-ausgabe-3-2020
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