Burn-out, chronische Migräne, Wechseljahre des Mannes – werden mit diesen
Beschwerdebildern tatsächlich Krankheiten erfasst oder neue Krankheiten
frei erfunden? Werden soziale Probleme zu Krankheiten umgedeutet? Über den
Drahtseilakt zwischen überflüssiger Medikalisierung und notwendiger
Therapie diskutierte der Deutsche Ethikrat am 25. Februar 2015 im Rahmen
einer öffentlichen Veranstaltung der Reihe „Forum Bioethik“ in Berlin.
Die zuverlässige Diagnostik von Krankheiten ist der Ausgangspunkt für eine
zielgerichtete Therapie. Patienten sollten in ihrem eigenen Interesse nur
dann behandelt werden, wenn eine Erkrankung tatsächlich vorliegt und es
Therapien gibt, die die Krankheit verhindern, heilen oder Symptome
lindern. Doch was überhaupt als Krankheit betrachtet und behandelt wird,
hängt nicht immer nur von medizinischen Fakten ab. Auch kulturelle und
wirtschaftliche Faktoren können eine Rolle dabei spielen, und manche
Krankheiten geraten dadurch geradezu in Mode.
Dass die Geschichte der westlichen Medizin reich an „Modekrankheiten“ sei,
die nicht nur unter Ärzten, sondern auch in der Bevölkerung bereitwillig
aufgenommen werden, stellte Michael Stolberg von der Julius-Maximilians-
Universität Würzburg in seinem Referat über Krankheitsmoden im Wandel der
Zeiten sehr anschaulich dar. Sie seien in Indiz dafür, dass die
Wahrnehmung, Deutung und Erfahrung von Krankheit stets und unausweichlich
auch vom jeweiligen historischen und kulturellen Kontext geprägt sei.
Das Stichwort Disease-Mongering griff Gisela Schott von der
Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft in ihrem Referat auf. Sie
kritisierte, dass normale Prozesse des Lebens als medizinisches Problem
definiert, neue Krankheitsbilder durch Werbemaßnahmen geradezu erfunden,
leichte Symptome zu Vorboten schwerer Leiden stilisiert und Risiken als
Krankheit verkauft würden. Dies habe unter anderem zur Folge, dass die
Betroffenen im Rahmen einer Medikation einem unnötigen Risiko ausgesetzt
seien und gleichzeitig Ressourcen des Gesundheitssystems verschwendet
würden. Die Politik sieht sie in der Pflicht, die Werbung für Arzneimittel
strenger zu regulieren und verstärkt die unabhängige Forschung zu fördern.
Aber auch die Bürger müssten sich aktiv informieren.
Thomas Schramme von der Universität Hamburg, der sich den normativen
Fragen zum Umgang mit Krankheitsmoden widmete, beklagte die drohende
Ausweitung des Krankheitsbegriffs. Es werde nicht unterschieden zwischen
der Abwesenheit von Krankheit als Mindestkriterium für die Gesundheit
(negativer Gesundheit) und der idealtypischen bestmöglichen
Gesundheitsdisposition (positiver Gesundheit). Hier gelte es, begriffliche
Klarheit zu schaffen und zwischen tatsächlich pathologischen Phänomenen
und medizinisch normalen Zuständen zu differenzieren. Er stellte zudem die
Funktion des Krankheitsbegriffs für die Entscheidung über die solidarische
Finanzierung von Therapie infrage.
In der anschließenden Podiumsdiskussion diskutierten Jörg Blech vom
Magazin Der Spiegel, Lothar Weissbach von der Stiftung Männergesundheit,
Boris Quednow von der Universität Zürich und Christiane Fischer von MEZIS
e. V. mit dem stellvertretenden Vorsitzenden des Deutschen Ethikrates
Wolf-Michael Catenhusen, welche Folgen die Beschreibung immer neuer
Krankheitsbilder hat. Eine Orientierung von Behandlungsentscheidungen an
bloßen Laborwerten führe dazu, so Weissbach, dass aus zuvor gesunden
Menschen behandlungspflichtige Patienten gemacht würden, ein grenzwertiger
Befund zum „Überbefund“ werde, der eine Überdiagnose und Übertherapie nach
sich ziehe. Quednow warnte vor Krankheitsmoden in der Psychiatrie, die im
Fall von Burn-out dazu führen könnten, dass einerseits eigentlich gesunde
Menschen unnötig behandelt werden, andererseits aber das Risiko bestehe,
dass Menschen, die an einer schweren Depression leiden, eine falsche
Diagnose bekommen. Als die Urheber machten Blech und Fischer
Pharmaunternehmen, medizinische Interessenverbände und PR-Agenturen aus,
die neue Leiden erfänden und zum Industrieprodukt machten. Doch statt
maximaler Versorgung unabhängig von der Ausprägung eines Krankheitsbildes
sollten sich Ärzte in der „Kunst des Weglassens“ üben, so Weissbach, und
dabei mitunter von einer Therapie abraten, auch wenn sie damit keine
honorierte ärztliche Leistung im Sinne der Krankenkasse erbrächten.
Das Programm der Veranstaltung sowie in Kürze auch die Vorträge und
Diskussionsbeiträge der Teilnehmer können unter
www.ethikrat.org/veranstaltungen/forum-bioethik/alte-probleme-neue- krankheiten abgerufen werden.
Weitere Informationen finden Sie als Medizin am Abend Leser unter
http://www.ethikrat.org/veranstaltungen/forum-bioethik/alte-probleme-neue-krankheiten
Medizin am Abend DirektKontakt
Ulrike Florian
Beschwerdebildern tatsächlich Krankheiten erfasst oder neue Krankheiten
frei erfunden? Werden soziale Probleme zu Krankheiten umgedeutet? Über den
Drahtseilakt zwischen überflüssiger Medikalisierung und notwendiger
Therapie diskutierte der Deutsche Ethikrat am 25. Februar 2015 im Rahmen
einer öffentlichen Veranstaltung der Reihe „Forum Bioethik“ in Berlin.
Die zuverlässige Diagnostik von Krankheiten ist der Ausgangspunkt für eine
zielgerichtete Therapie. Patienten sollten in ihrem eigenen Interesse nur
dann behandelt werden, wenn eine Erkrankung tatsächlich vorliegt und es
Therapien gibt, die die Krankheit verhindern, heilen oder Symptome
lindern. Doch was überhaupt als Krankheit betrachtet und behandelt wird,
hängt nicht immer nur von medizinischen Fakten ab. Auch kulturelle und
wirtschaftliche Faktoren können eine Rolle dabei spielen, und manche
Krankheiten geraten dadurch geradezu in Mode.
Dass die Geschichte der westlichen Medizin reich an „Modekrankheiten“ sei,
die nicht nur unter Ärzten, sondern auch in der Bevölkerung bereitwillig
aufgenommen werden, stellte Michael Stolberg von der Julius-Maximilians-
Universität Würzburg in seinem Referat über Krankheitsmoden im Wandel der
Zeiten sehr anschaulich dar. Sie seien in Indiz dafür, dass die
Wahrnehmung, Deutung und Erfahrung von Krankheit stets und unausweichlich
auch vom jeweiligen historischen und kulturellen Kontext geprägt sei.
Das Stichwort Disease-Mongering griff Gisela Schott von der
Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft in ihrem Referat auf. Sie
kritisierte, dass normale Prozesse des Lebens als medizinisches Problem
definiert, neue Krankheitsbilder durch Werbemaßnahmen geradezu erfunden,
leichte Symptome zu Vorboten schwerer Leiden stilisiert und Risiken als
Krankheit verkauft würden. Dies habe unter anderem zur Folge, dass die
Betroffenen im Rahmen einer Medikation einem unnötigen Risiko ausgesetzt
seien und gleichzeitig Ressourcen des Gesundheitssystems verschwendet
würden. Die Politik sieht sie in der Pflicht, die Werbung für Arzneimittel
strenger zu regulieren und verstärkt die unabhängige Forschung zu fördern.
Aber auch die Bürger müssten sich aktiv informieren.
Thomas Schramme von der Universität Hamburg, der sich den normativen
Fragen zum Umgang mit Krankheitsmoden widmete, beklagte die drohende
Ausweitung des Krankheitsbegriffs. Es werde nicht unterschieden zwischen
der Abwesenheit von Krankheit als Mindestkriterium für die Gesundheit
(negativer Gesundheit) und der idealtypischen bestmöglichen
Gesundheitsdisposition (positiver Gesundheit). Hier gelte es, begriffliche
Klarheit zu schaffen und zwischen tatsächlich pathologischen Phänomenen
und medizinisch normalen Zuständen zu differenzieren. Er stellte zudem die
Funktion des Krankheitsbegriffs für die Entscheidung über die solidarische
Finanzierung von Therapie infrage.
In der anschließenden Podiumsdiskussion diskutierten Jörg Blech vom
Magazin Der Spiegel, Lothar Weissbach von der Stiftung Männergesundheit,
Boris Quednow von der Universität Zürich und Christiane Fischer von MEZIS
e. V. mit dem stellvertretenden Vorsitzenden des Deutschen Ethikrates
Wolf-Michael Catenhusen, welche Folgen die Beschreibung immer neuer
Krankheitsbilder hat. Eine Orientierung von Behandlungsentscheidungen an
bloßen Laborwerten führe dazu, so Weissbach, dass aus zuvor gesunden
Menschen behandlungspflichtige Patienten gemacht würden, ein grenzwertiger
Befund zum „Überbefund“ werde, der eine Überdiagnose und Übertherapie nach
sich ziehe. Quednow warnte vor Krankheitsmoden in der Psychiatrie, die im
Fall von Burn-out dazu führen könnten, dass einerseits eigentlich gesunde
Menschen unnötig behandelt werden, andererseits aber das Risiko bestehe,
dass Menschen, die an einer schweren Depression leiden, eine falsche
Diagnose bekommen. Als die Urheber machten Blech und Fischer
Pharmaunternehmen, medizinische Interessenverbände und PR-Agenturen aus,
die neue Leiden erfänden und zum Industrieprodukt machten. Doch statt
maximaler Versorgung unabhängig von der Ausprägung eines Krankheitsbildes
sollten sich Ärzte in der „Kunst des Weglassens“ üben, so Weissbach, und
dabei mitunter von einer Therapie abraten, auch wenn sie damit keine
honorierte ärztliche Leistung im Sinne der Krankenkasse erbrächten.
Das Programm der Veranstaltung sowie in Kürze auch die Vorträge und
Diskussionsbeiträge der Teilnehmer können unter
www.ethikrat.org/veranstaltungen/forum-bioethik/alte-probleme-neue- krankheiten abgerufen werden.
Weitere Informationen finden Sie als Medizin am Abend Leser unter
http://www.ethikrat.org/veranstaltungen/forum-bioethik/alte-probleme-neue-krankheiten
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