Medizin am Abend Berlin - MaAB-Fazit: Empathie und Perspektivübernahme:
Wie soziale Fähigkeiten aufgebaut sind
- Empathie und die Perspektive des anderen einnehmen können – zwei Fähigkeiten, durch die wir verstehen, was im Kopf des anderen vor sich geht.
Obwohl beide Begriffe ständig im Umlauf sind, ist noch immer unklar, was sie genau beschreiben.
Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für Kognitions- und Neurowissenschaften (MPI CBS) in Leipzig haben nun gemeinsam mit Kollegen der Oxford-University viele der bisherigen Studien ausgewertet und ein Erklärungsmodell entwickelt, das zeigt:
- Es ist nicht eine konkrete Kompetenz, die uns dazu befähigt, uns in eine andere Person hineinzuversetzen.
Beide Fähigkeiten setzen sich aus vielen Einzelfaktoren zusammen, die sich je nach Situation unterscheiden.
Zu verstehen, was andere Menschen wollen, wie sie sich fühlen und wie sie die Welt sehen, wird in unserer komplexen, globalisierten Gesellschaft immer wichtiger.
Soziale Kompetenzen ermöglichen es uns, Freunde zu gewinnen und ein Netzwerk von Menschen zu schaffen, die uns unterstützen. Doch nicht jedem fällt der Umgang mit anderen Menschen leicht.
- Ein wesentlicher Grund: Die beiden wichtigsten sozialen
Kompetenzen Empathie, also sich in die Emotionen des anderen
hineinfühlen zu können, sowie die Fähigkeit zur Perspektivübernahme,
also die Pläne und Absichten eines anderen nachvollziehen zu können,
sind unterschiedlich stark ausgeprägt.
Forscher versuchen daher seit langem herauszufinden, was einem dabei
hilft, andere zu verstehen. Je mehr man darüber weiß, so die Idee, desto
besser kann man Menschen helfen, soziale Beziehungen einzugehen.
Bislang war es jedoch sehr schwierig genau zu wissen, was das eigentlich
ist, Empathie und Perspektivübernahme. Die Emotionen einer Person an
ihren Augen ablesen, eine lustige Geschichte verstehen oder die
Handlungen einer anderen Person nachvollziehen zu können – im Alltag
ergeben sich ständig andere soziale Herausforderungen, die alle diese
beiden großen Gesamtkompetenzen erfordern. Im Detail benötigen sie aber
jeweils eine Kombination verschiedener einzelner untergeordneter
Fertigkeiten. Ist es für die eine Situation notwendig, Blicke und Mimik
zu interpretieren, ist es in der anderen eher von Nöten, den kulturellen
Hintergrund des Erzählers mitzudenken oder seine aktuellen Bedürfnisse
zu kennen.
Bis heute entstanden daher unzählige Studien, die zwar Empathie und
Perspektivübernahme jeweils als Ganzes untersuchten. Bislang ungeklärt
blieb jedoch, was beide Kompetenzen trotz jeweils verschiedener
Anforderungen im Kern ausmacht und wo im Gehirn ihre Basis liegt. Kanske
und ein Team internationaler Wissenschaftler haben nun Abhilfe
geschaffen und ein umfassendes Erklärungsmodell entwickelt.
„Das Gehirn besitzt zwei allgemeine Fähigkeiten für das Manövrieren in
der sozialen Welt.
Die Empathie ist gefühlsbasiert und hilft uns, an den
Emotionen des anderen teilzunehmen. Die zweite, die Fähigkeit zum
Perspektivwechsel, ist ein komplexer Denkprozess, der dazu dient, sich
die Umstände des anderen vorzustellen und darüber nachzudenken, was
diese Person denken könnte“, erklärt Philipp Kanske, früher
Forschungsgruppenleiter am MPI CBS und heute dort Research Associate
sowie Professor an der TU Dresden. Gemeinsam mit Matthias Schurz vom
Donders Institut in Nijmegen, Niederlande, leitete er die Studie, die
aktuell im Fachmagazin „Psychological Bulletin“ erschienen ist. „Diese
beiden abstrakten Fähigkeiten zum Eindenken und Einfühlen in Andere
setzen sich wiederum aus verschiedenen Bausteinen zusammen.“
„Beide Gesamtkompetenzen werden jeweils von einem auf Empathie oder
Perspektivwechsel spezialisierten ‚Hauptnetzwerk‘ im Gehirn verarbeitet,
die in jeder sozialen Situation aktiviert werden, ziehen aber je nach
Situation zusätzliche Netzwerke hinzu“, so Kanske weiter. Lesen wir die
Gedanken und Gefühle anderer beispielsweise von deren Augen ab, sind
andere Zusatzregionen beteiligt als wenn wir sie aus deren Handlungen
oder aus einer Erzählung erschließen müssen. „Das Gehirn kann so sehr
flexibel auf die einzelnen Anforderungen reagieren.“
- Für Empathie arbeitet ein Hauptnetzwerk, das akut bedeutsame Situationen erkennen kann, indem es etwa Angst verarbeitet, mit spezialisierten zusätzlichen Regionen, beispielsweise für Gesichts- oder Spracherkennung zusammen.
- Beim Wechseln der Perspektive sind als Kernnetzwerk die Regionen aktiv, die auch beim Erinnern an Vergangenes oder dem Fantasieren über Zukünftiges zum Einsatz kommen, also bei Gedanken, die sich mit aktuell nicht beobachtbaren Dingen befassen. Auch hier schalten sich in den konkreten Situationen jeweils zusätzliche Hirnregionen hinzu.
Komplexe soziale Probleme erfordern Zusammenspiel beider Fähigkeiten
Durch ihre Auswertungen haben die Forscher außerdem herausgefunden:
- Gerade die besonders komplexen sozialen Probleme erfordern eine Kombination aus Empathie und Perspektivwechsel.
- Personen, die besonders sozial kompetent sind, scheinen demnach andere auf beide Arten zu betrachten, also auf der Grundlage von Gefühlen und auf der von Gedanken.
In ihrem Urteilsvermögen finden sie dann die richtige Balance
aus beidem.
„Unsere Analyse zeigt aber auch, dass Mangel an einer der beiden
Sozialkompetenzen auch bedeuten kann, dass nicht die Kompetenz als
Ganzes begrenzt ist.
Womöglich ist nur ein bestimmter Teilfaktor
betroffen, etwa das Verständnis von Mimik oder Sprachmelodie“, ergänzt
Kanske. Ein einzelner Test reiche daher nicht aus, um einer Person
mangelnde soziale Fähigkeiten zu bescheinigen. Vielmehr müsse es eine
ganze Reihe an Testverfahren geben, um sie tatsächlich als wenig
empathisch einzuschätzen – oder als unfähig, die Sichtweise des anderen
einnehmen zu können.
Untersucht haben die Wissenschaftler diese Zusammenhänge durch eine
großangelegte Meta-Analyse. Darin identifizierten sie zum einen, welche
Gemeinsamkeiten sich bei den 188 untersuchten Einzelstudien im
MRT-Muster zeigten, wenn sich die Teilnehmer ihrer Empathie oder
Perspektivübernahme bedienten – um so für jede der beiden sozialen
Kompetenzen die Kernregionen im Gehirn zu lokalisieren. Sie
kennzeichneten aber auch, worin sich die MRT-Muster je nach konkreter
Aufgabe unterschieden und welche demzufolge jeweils zusätzlich
herangezogene Hirnregionen sind.
Prof. Dr. Philipp Kanske
Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften
+49 341 9940-149
kanske@cbs.mpg.de
Verena Müller Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften
Stephanstraße 1a
04103 Leipzig
Postfach 500355
04303 Leipzig
Deutschland
Sachsen
Verena Müller
Telefon: +49 341 9940-148
E-Mail-Adresse: verenamueller@cbs.mpg.de
Originalpublikation:
Schurz, M., Radua, J., Tholen, M. G., Maliske, L., Margulies, D. S., Mars, R. B., Kanske, P. (2020).
Toward a Hierarchical Model of Social Cognition: A Neuroimaging
Meta-Analysis and Integrative Review of Empathy and Theory of Mind
Psychological Bulletin. Advance online publication. http://dx.doi.org/10.1037/bul00003
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