Medizin am Abend Berlin - MaAB-Fazit: Nierenkrankheit genetisch entschlüsselt
Bartter-Syndrom Typ 3 geht auf mehrere Strukturvarianten im Genom zurück.
Mithilfe der „Long-read-Sequenzierung“ konnte Janine Altmüller und ihr Team vom Max Delbrück Center, BIH und der Uniklinik Köln die seltene Krankheit genauer analysieren.
Die Ergebnisse stellen sie in „Genome Medicine“ vor.
Als die drei Kinder einer aus Syrien geflohenen Familie zum ersten Mal in der Sprechstunde von Dr. Bodo Beck an der Universitätsklinik in Köln saßen, war der Humangenetiker überrascht:
Das Ergebnis seiner Genanalyse diagnostizierte ein Bartter-Syndrom Typ 3.
- Doch noch nie zuvor hatte er bei Patient*innen mit dieser seltenen Erkrankung so schwere Gelenkveränderungen gesehen.
- Die Nierenkrankheit ist erblich – den Betroffenen fehlt das Gen CLCNKB, das für einen bestimmten Chloridkanal verantwortlich ist.
- Der Elektrolyt-Haushalt gerät aus dem Gleichgewicht, weil die Nieren wichtige Nährstoffe und Salze vom Urin während des Filterprozesses nicht zurück ins Blut aufnehmen können.
Neben dem Fehlen des CLCNKB-Gens vermutete Beck möglicherweise
ausgedehntere Deletionen, also Bereiche, die komplett aus dem Genom
gelöscht wurden und, die das schwere Krankheitsbild erklären würden.
Um sich die krankmachenden Gene genauer anzuschauen, kontaktierte er Dr. Janine Altmüller, Leiterin der Genomik-Plattform des Max Delbrück Center und des Berlin Institute of Health in der Charité (BIH).
Ihr Team, das
am Berliner Institut für Medizinische Systembiologie des Max Delbrück
Center (MDC-BIMSB) angesiedelt ist, arbeitet mit modernsten
Sequenzierungsmethoden wie zum Beispiel „Long-read-Sequenzierungen“. Mit
dieser Technologie analysierten sie nun Bereiche im Genom von
Patient*innen, die zuvor im Dunkeln lagen. Die Ergebnisse haben sie im
Journal „Genome Medicine“ veröffentlicht.
Eine Technologie für komplexe Strukturen
Herkömmliche „Short-read-Sequenzierungen“ erfassen DNA-Abschnitte in
vielen kurzen Stücken, die anschließend wieder zusammengefügt werden
müssen. Bei komplexen Genom-Strukturen stoßen diese in der Klinik
üblichen Verfahren jedoch an ihre Grenzen – zum Beispiel wenn sich
Sequenzen mehrfach innerhalb eines genetischen Abschnitts wiederholen
wie es beim Bartter-Syndrom Typ 3 der Fall ist. Auch deshalb hatte
niemand bislang die Feinstruktur der betroffenen Gene untersucht.
Die „Long-read-Sequenzierung“ kann dagegen in einem einzigen Durchgang
viel längere Abschnitte der DNA lesen, etwa in der Größenordnung von
Tausenden oder sogar Zehntausenden von Basenpaaren. Das riesige Puzzle
mit den komplexen, sich wiederholenden Mustern hat somit größere
Einzelteile und lässt sich leichter richtig zusammenfügen. Das Journal
„Nature Methods“ machte sie deshalb zur Methode des Jahres 2022.
Altmüllers Team ist dank der Technik nun bei insgesamt 32 Patient*innen
aus Nierenzentren in Köln, Marburg, Münster und London auf verschiedene
genetische Varianten gestoßen, die CLCNKB und das benachbarte Gen CLCNKA
betreffen und bislang unbekannt waren: „Bei einer der Strukturvarianten
die wir gefunden haben, befindet sich ein kleiner Abschnitt des einen
Gens in einer ähnlichen Position im benachbarten Gen“, sagt Altmüller.
Dieses genetische Muster hat zunächst keine Auswirkungen auf die Niere
und kam bei fast der Hälfte der gesunden Personen in der Studie vor. Bei
den untersuchten Patient*innen war es aber nahezu immer vertreten.
Ein Hotspot für Mutationen
Die Forschenden vermuten, dass dieses Muster im Genom die Entstehung
krankmachender Genvarianten begünstigt. „Die Strukturveränderung ist
faszinierend, weil sie evolutionär gesehen ein Mutationshotspot ist“,
sagt Altmüller. „Das Muster erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass weitere
Strukturvarianten im Laufe der menschlichen Evolution auftreten
konnten.“ Tatsächlich fand das Team bei den Patient*innen acht
verschiedene Deletionen in CLCNKB. Die seltene Nierenerkrankung gehe
demnach nicht immer auf dieselben Strukturvarianten zurück, sondern es
handele sich um unabhängige Ereignisse mit demselben genetischen
Hintergrund, sagt Altmüller.
Bei der syrischen Familie entdeckten die Forschenden keine zusätzlichen
Deletionen von Gensequenzen.
Es blieb also bei der alleinigen Diagnose Bartter-Syndrom Typ 3.
„In unserem Gesundheitssystem sehen wir solch
ungewöhnlich schwere Krankheitsverläufe nur selten, weil Nierenschwäche
meist deutlich früher erkannt und Spätfolgen, beispielsweise an den
Gelenken, in der Regel verhindert werden können“, erklärt Beck.
Die Ergebnisse helfen den Wissenschaftler*innen, die Ursachen der
Krankheit besser zu verstehen.
Sie können in Zukunft dazu beitragen, bessere Diagnose- und Behandlungsmöglichkeiten zu entwickeln.
Den ersten Schritt, die Technik in die Kliniken zu bringen, ist Altmüller bereits gegangen:
„Demnächst startet eine Pilotstudie mit Partnern aus Berlin,
Hannover, Tübingen und Aachen, in der wir Long-read-Sequenzierungen bei
einer größeren Patient*innen-Kohorte mit ungelösten seltenen genetischen
Erkrankungen anwenden wollen.“
Christina Anders
Robert-Rössle-Str. 10
13125 Berlin
Deutschland
Berlin
Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in der Helmholtz-Gemeinschaft
Dr. Janine Altmüller
Gruppenleiterin, Technologie-Plattform „Genomik“
Max Delbrück Center
+49 (0)30 9406-1434
Janine.Altmueller@mdc-berlin.de
Christina Anders
Max Delbrück Center
+49 (0)30 9406-2118
christina.anders@mdc-berlin.de
Max Delbrück Center
Das Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in der
Helmholtz-Gemeinschaft (Max Delbrück Center) gehört zu den international
führenden biomedizinischen Forschungszentren. Nobelpreisträger Max
Delbrück, geboren in Berlin, war ein Begründer der Molekularbiologie. An
den Standorten in Berlin-Buch und Mitte analysieren Forscher*innen aus
rund 70 Ländern das System Mensch – die Grundlagen des Lebens von seinen
kleinsten Bausteinen bis zu organ-übergreifenden Mechanismen. Wenn man
versteht, was das dynamische Gleichgewicht in der Zelle, einem Organ
oder im ganzen Körper steuert oder stört, kann man Krankheiten
vorbeugen, sie früh diagnostizieren und mit passgenauen Therapien
stoppen. Die Erkenntnisse der Grundlagenforschung sollen rasch
Patient*innen zugutekommen. Das Max Delbrück Center fördert daher
Ausgründungen und kooperiert in Netzwerken. Besonders eng sind die
Partnerschaften mit der Charité – Universitätsmedizin Berlin im
gemeinsamen Experimental and Clinical Research Center (ECRC) und dem
Berlin Institute of Health (BIH) in der Charité sowie dem Deutschen
Zentrum für Herz-Kreislauf-Forschung (DZHK). Am Max Delbrück Center
arbeiten 1800 Menschen. Finanziert wird das 1992 gegründete Max Delbrück
Center zu 90 Prozent vom Bund und zu 10 Prozent vom Land Berlin.
Berlin Institute of Health (BIH) in der Charité
Die Mission des Berlin Institute of Health (BIH) ist die medizinische
Translation: Erkenntnisse aus der biomedizinischen Forschung werden in
neue Ansätze zur personalisierten Vorhersage, Prävention, Diagnostik und
Therapie übertragen, umgekehrt führen Beobachtungen im klinischen
Alltag zu neuen Forschungsideen. Ziel ist es, einen relevanten
medizinischen Nutzen für Patient*innen und Bürger*innen zu erreichen.
Dazu etabliert das BIH als Translationsforschungsbereich in der Charité
ein umfassendes translationales Ökosystem, setzt auf ein
organübergreifendes Verständnis von Gesundheit und Krankheit und
fördert einen translationalen Kulturwandel in der biomedizinischen
Forschung. Das BIH wurde 2013 gegründet und wird zu 90 Prozent vom
Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) und zu zehn Prozent
vom Land Berlin gefördert. Die Gründungsinstitutionen Charité –
Universitätsmedizin Berlin und Max Delbrück Center waren bis 2020
eigenständige Gliedkörperschaften im BIH. Seit 2021 ist das BIH als so
genannte dritte Säule in die Charité integriert, das Max Delbrück Center
ist Privilegierter Partner des BIH.
Originalpublikation:
Nikolai Tschernoster et al.
(2023): „Long-read sequencing identifies a common transposition
haplotype predisposing for CLCNKB deletions“. Genome Medicine, DOI:
10.1186/s13073-023-01215-1
https://genomemedicine.biomedcentral.com/articles/10.1186/s13073-023-01215-1
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