Medizin am Abend Berlin - MaAB-Fazit: Zerebrale Flüssigkeitsverschiebungen bei Neuro-COVID
Bei an COVID-19 Verstorbenen werden im Gehirn histologisch häufig entzündliche Veränderungen der weißen Substanz nachgewiesen, im zerebralen MRT sind dagegen selbst bei neurologischer Symptomatik oft keine Auffälligkeiten zu sehen.
Eine gestern publizierte Studie [1] von Forschenden aus Freiburg konnte mit einer speziellen Bildgebungstechnik (DMI) ausgedehnte mikrostrukturelle Veränderungen in der weißen Substanz identifizieren, offenbar bedingt durch Flüssigkeitsverschiebungen.
Diese könnten lt. Einschätzungen der Experten zu kognitiven Beeinträchtigungen führen.
Dennoch dürften diese Ergebnisse aber nicht auf Long-COVID extrapoliert werden.
Verschiedenste neurologische Komplikationen (akut, subakut oder chronisch verlaufend) wurden in den letzten zwei Jahren bei Menschen mit einer COVID-19-Erkrankung beschrieben („Neuro-COVID“).
- Oft finden sich pathologische Befunde in der Bildgebung (CT, MRT), die aber nicht COVID-19-spezifisch sind, sondern typisch für die Art der Komplikation – meistens Gefäßkomplikationen (am häufigsten ischämische Schlaganfälle, aber auch Thrombosen, Blutungen etc.).
- Bei subakuten Störungen sind vor allem Mikroblutungen und Leukenzephalopathien nachweisbar, schwieriger oder oft gar nicht in der Bildgebung zu erfassen sind Korrelate von kognitiven Störungen.
Im Zusammenhang mit subakuten, kognitiven Funktionsbeeinträchtigungen,
deren Ursachen in frontoparietalen Gehirnbereichen (Stirn- und
Scheitellappen) zu suchen sind, wurde von der Freiburger Arbeitsgruppe
in der Positronenemissionstomographie (PET, genauer 18F-FDG PET) eine
verminderte Glukose-Verstoffwechselung beschrieben [3]. Als mögliche
pathophysiologische Erklärung des Phänomens wurden im Gehirn von an
COVID-19-Verstorbenen mikrostrukturelle Veränderungen mit Aktivierung
von Mikroglia und Astrozyten gefunden [4-6].
Auffällig war, dass die weiße Substanz, d. h. die Nervenzellfortsätze (Axone), davon stärker betroffen war als die graue, so dass die Hypothese aufgestellt wurde, dass eine Entzündungsreaktion der Nervenfasern der weißen Substanz die Funktion der angeschlossenen Hirnrindenbereiche (Neokortex/graue Substanz/Nervenzellkörper) beeinträchtigen könnte, was wiederum zu dem verminderten neokortikalen Glukosemetabolismus und den entsprechend lokalisierten kognitiven Störungen passen würde.
Auf entzündliche Veränderungen der weißen Substanz, die in postmortalen Gewebeuntersuchungen beschrieben wurden, ergaben sich in bisher durchgeführten MRT-Studien keine Hinweise.
Um diese Lücke zwischen den zerebralen MRT-Befunden und der postmortalen Gewebeuntersuchung zu schließen, hat man in der aktuellen Studie die Mikrostruktur der weißen Substanz mittels DMI („diffusion microstructure imaging“) dargestellt.
Die DMI kann kleinste Volumenverschiebungen
zwischen den unterschiedlichen Kompartimenten verschiedener Gewebe
erkennen, wie beispielsweise in der weißen Substanz Flüssigkeit im
intra- und extraaxonalen Raum sowie in perivaskulären Räumen.
In der aktuell publizierten prospektiven Studie [1] aus Freiburg wurden
20 hospitalisierten COVID-19-Betroffene (57,3±17 Jahre) mit
neurologischen Symptomen (z. B. Delir, Hirnnervenlähmungen) und
kognitiven Störungen in der subakuten Erkrankungsphase (29,3±14,8 Tage
nach der positiven PCR) mittels DMI untersucht. 70% (14/20) hatten im
„Montreal Cognitive Assessment“ (MoCA-Test) Werte unterhalb des
Cut-off-Wertes (<26/30 Punkte), der Mittelwert betrug 22,4±4,9
Punkte. Ein Vergleich der DMI-Parameter der gesamten weißen Substanz mit
einer gesunden Kontrollgruppe (n=35) zeigte bei den Kranken eine
ausgedehnte Volumenverschiebung aus dem intra- und extraaxonalen Raum in
die perivaskulären Räume. Diese COVID-assoziierte Veränderung betraf
praktisch das gesamte Großhirn (bzw. die supratentorielle weiße
Substanz) mit einer maximalen Ausprägung in Verbindungsbahnen frontaler
und parietaler Regionen. Das Ausmaß der Flüssigkeits-Umverteilung der
weißen Substanz war signifikant mit den kognitiven Störungen
(MoCA-Ergebnisse) assoziiert (p=0,006), aber nicht mit Störungen des
Geruchssinns. Außerdem gab es eine (allerdings nicht-signifikante)
Assoziation zwischen Flüssigkeitsverschiebung und
Interleukin-6-Spiegeln, was für eine durch die systemische
Entzündungsreaktion getriggerte Störung spricht. Die Ausprägung und
Lokalisation der Flüssigkeitsverschiebung korrelierten auch mit den
metabolischen Mustern im 18F-FDG PET.
„Zusammenfassend konnten mit der DMI-Technik bei COVID-19-Betroffenen mit subakuten neurokognitiven Symptomen ausgedehnte Volumenverschiebungen zerebraler Flüssigkeit nachgewiesen werden, die im normalen MRT nicht sichtbar sind“, kommentiert Prof. Peter Berlit, DGN-Generalsekretär und federführender Autor der Leitlinie „Neurologische Manifestationen bei COVID-19“.
„Möglicherweise kommen dadurch weniger Signale in zugehörigen kortikalen Bereichen an, was zum verminderten Glukosestoffwechsel der Nervenzellen in der Hirnrinde und kognitiven Beeinträchtigungen führen könnte.
Die Studie deutet darauf, dass kognitive Störungen bei COVID-19 strukturelle Ursachen im Gehirn zu haben scheinen. Prinzipiell sind diese reversibel.
Hier sind nun
Langzeitbeobachtungen notwendig, um den weiteren Verlauf zu beurteilen
und mögliche Behandlungsstrategien zu überprüfen.“
PD Dr. Jonas Hosp, Freiburg, Letztautor der Studie, rät allerdings zur
Vorsicht, wenn es darum geht, diese Ergebnisse auf Long-COVID zu
extrapolieren:
„Die Studie hat Patientinnen und Patienten im subakutem Stadium untersucht, die aufgrund der Krankheitsschwere stationär behandelt werden mussten und durch neurologischen Symptome auffällig wurden.
Ob die hier festgestellten pathophysiologischen Prozesse auch
für das Post-COVID-Syndrom eine Rolle spielen, muss sich erst noch
zeigen. Beim Post-COVID-Syndrom ist die akute Infektion ja häufig milde
und die Beschwerden treten mit einer gewissen Latenz zur Infektion auf.“
[1] Rau A, Schroeter N, 2, Blazhenets G et al. Widespread white matter
oedema in subacute COVID-19 patients with neurological symptoms. Brain
2022; https://academic.oup.com/brain/advance-article/doi/10.1093/brain/awac045/6604299...
[2] Hosp JA, Dressing A, Blazhenets G et al. Cognitive impairment and
altered cerebral glucose metabolism in the subacute stage of COVID-19.
Brain 2021; 144 (4): 1263-1276
[3] Matschke J, Lütgehetmann M, Hagel C et al. Neuropathology of
patients with COVID-19 in Germany: a post-mortem case series. Lancet
Neurol 2020; 19 (11): 919–929
[4] Schwabenland M, Salié H, Tanevski J, et al. Deep spatial profiling
of human COVID-19 brains reveals neuroinflammation with distinct
microanatomical microglia-T-cell interactions. Immunity 2021; 54 (7):
1594–1610.e11.
[5] Thakur KT, Miller EH, Glendinning MD, et al. COVID-19 neuropathology
at Columbia University Irving Medical Center/ New York Presbyterian
Hospital. Brain 2021; 144: 2696–2708
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