Medizin am Abend Berlin - MaAB-Fazit: Notfallmedizin: Hirnschlag bei Schwindelpatienten zuverlässig bestimmen
Die schnelle und korrekte Diagnose eines Hirnschlags als Ursache für akuten Schwindel in der Notfallaufnahme ist von höchster Priorität.
Einem Forschungsteam des Inselspitals, Universitätsspital Bern und der Universität Bern ist es gelungen, einen zuverlässigen Indikator im Zusammenhang mit den spontan auftretenden Augenbewegungen (Nystagmus) zu ermitteln und zu testen.
- Nach einem Schlaganfall kann mit einer Videobrille die unvollständige Unterdrückung des Nystagmus bei Licht nachgewiesen werden.
Vorrichtung bei der Entwicklung des neuen Tests: Eine Videobrille, ein umgebauter Papierkorb und ein Tablet reichen technologisch vollständig aus.G. Pauciello Insel Gruppe
Etwa 30 Prozent aller Erwachsenen sind einmal in ihrem Leben von Schwindel betroffen.
Am Inselspital werden pro Jahr 2500 Personen mit Schwindel im Notfallzentrum empfangen. Das entspricht etwa jeder zehnten Einlieferung. 4 Prozent davon, also etwa 100 Patientinnen und Patienten, hatten einen Schlaganfall.
Die korrekte Triage stellt sehr hohe Anforderungen.
- Es wird geschätzt, dass bei Triagen in Notfallstationen etwa 35 Prozent aller Hirnschläge mit Schwindel als Hauptsymptom unerkannt bleiben.
- Das hat auch damit zu tun, dass die Bildgebung mittels MRI in den besonders kritischen 24 Stunden der Anfangsphase unzuverlässig ist.
Übersehene und verpasste Schlaganfälle haben in vielen Fällen bleibende neurologische Schäden zur Folge.
Das kann ein lebensgefährdendes Ereignis in einer das Hirn versorgenden Blutbahn sein oder dramatische Erkrankungen, wie ein Wallenberg-Syndrom oder ein Locked-in-Syndrom, das mit dem Ausfall praktisch der gesamten Bewegungssteuerung einhergeht.
- Der korrekten, frühzeitigen Diagnose des Schlaganfalls im Hirnstamm bzw. im Kleinhirn als Ursache für einen akuten Schwindel kommt deshalb hohe Priorität zu.
Studienaufbau: Untersuchung der Nystagmus-Unterdrückung mit Videobrille und Tablet
Sowohl bei einem «gutartigen» Schwindel infolge einer Funktionsstörung des Gleichgewichtsorgans im Innenohr bei einer vestibulären Neuritis als auch bei einem Schwindelanfall in der Folge eines Hirnschlags im Kleinhirn oder im Hirnstamm treten im Dunkeln spontane, unkontrollierte Augenbewegungen (Nystagmus) auf.
Die Lehrmeinung war bisher, dass sich ein Nystagmus bei einer gutartigen Ursache des Schwindels bei Licht unterdrücken lasse, der Blick also fixiert würde. Dagegen würde sich ein Nystagmus, der auf einen Schlaganfall zurückgeht, bei Licht nicht unterdrücken lassen, die Augenbewegung würde sich unkontrolliert fortsetzen.
Das Forschungsteam unter der Leitung von Prof. Dr. Georgios Mantokoudis
der Universitätsklinik für Hals-, Nasen- und Ohrenkrankheiten (HNO)
benutzte ein Gerät bestehend aus einer Videobrille und einem Tablet, das
die genaue Bestimmung der Intensität der Augenbewegung in der Zeitachse
nach einem Lichtwechsel erlaubte (Abbildung in der Beilage). Diese
Vorrichtung löst die Intensität der Bewegung und den zeitlichen Verlauf
der Fixierung der Augen genauer auf, als dies die Beobachtung von
blossem Auge vermag.
Je nach Ursache unterschiedliche Unterdrückung des Nystagmus
Mit der Apparatur in der Versuchsanordnung konnte gezeigt werden, dass
bei allen Patientinnen und Patienten die spontanen Augenbewegungen bei
Licht noch sichtbar waren, sich jedoch im Vergleich zum Test im Dunkeln
reduzierten. Es gab einen klaren Unterschied in der Stärke der
Unterdrückung des Nystagmus:
- Hirnschlagpatientinnen und Hirnschlagpatienten verringerten die Augenbewegungen nach dem Übergang ins Licht weniger.
- Patientinnen und Patienten mit einer «gutartigen» Ursache des Schwindels konnten dagegen den Nystagmus beim Wechsel ins Licht vollständiger unterdrücken (supprimieren).
Als bestes
Unterscheidungsmerkmal konnte die Verringerung um weniger als zwei
Winkelgrade pro Sekunde bei Hirnschlag bestimmt werden. Die Auswertung
ergab eine hohe Zuverlässigkeit und Aussagekraft der Unterdrückung der
spontanen Augenbewegung, der sogenannten Nystagmussuppression. Damit
wurde ein weiterer Test für eine zuverlässige Triage gefunden.
Empfehlungen für die klinische Anwendung
Bei der Differentialdiagnose zur Unterscheidung eines «gutartigen»
Schwindelanfalls aufgrund einer vestibulären Neuritis von einem
Schwindel, der durch einen Schlaganfall im Hirnstamm bzw. im Kleinhirn
verursacht wird, kommt eine Serie von Tests zur Anwendung (HINTS-Test).
Die Untersuchung des Grades der Nystagmussuppression beim Wechsel von
Dunkel zum Licht ist dabei ein neues, zusätzliches Element.
Der Einsatz einer Videobrille ergibt zuverlässige Resultate und ist
zudem für die Patientin und den Patienten wesentlich angenehmer,
schneller, kostengünstiger und der Situation besser angepasst als die
Erstellung eines MRI-Bildes. Weiter kann mit dem neuen
Nystagmussuppressions-Test lebenswichtige Zeit in der Frühphase nach
einem Ereignis gewonnen werden. Damit können Folgeschäden durch nicht
erkannte Hirnschläge weiter reduziert werden.
Nächste Forschungsvorhaben und Weiterentwicklung der Methode
Die zunächst monozentrisch am Inselspital erhobenen Resultate sollen nun
in einer grösseren Untersuchung ausgedehnt werden, in die auch kleinere
Spitäler und dezentrale Notfallstationen einbezogen werden. Von
besonderem Interesse ist dabei die Telenotfallmedizin, die Topfachwissen
aus dem Universitätsspital direkt den lokalen Standorten zur Verfügung
stellen kann. Weiter sollen Algorithmen der Künstlichen Intelligenz so
trainiert werden, dass die Ergebnisse der Nystagmus-Untersuchung mittels
Videobrille direkt ausgewertet werden und die Resultate den
untersuchenden Ärztinnen und Ärzten praktisch in Echtzeit zur Verfügung
gestellt werden können.
Prof. Dr. med. Georgios Mantokoudis, Leitender Arzt, Leiter CI-Zentrum und Schwindelzentrum Bern, Universitätsklinik für Hals-, Nasen- und Ohrenkrankheiten, Kopf- und Halschirurgie, Inselspital, Universitätsspital Bern, G. Pauciello, Insel Gruppe
Prof. Dr. med. Georgios Mantokoudis, Leitender Arzt, Leiter CI-Zentrum und Schwindelzentrum Bern, Universitätsklinik für Hals-, Nasen- und Ohrenkrankheiten, Kopf- und Halschirurgie, Inselspital, Universitätsspital Bern
Prof. Dr. Marco Domenico Caversaccio, Klinikdirektor und Chefarzt Universitätsklinik HNO, Universitätsspital Bern
Prof. Dr. med. Thomas Sauter, MME, Leitender Arzt, Leiter
Telenotfallmedizin und Digital Health, Universitäres Notfallzentrum,
Inselspital, Universitätsspital Bern und Stiftungsprofessur TCS
Telenotfallmedizin Universität Bern
Prof. Dr. med. Roger Kalla, Co-Leiter Schwindelzentrum,
Universitätsklinik für Neurologie, Inselspital, Universitätsspital Bern
3010 Bern
Schweiz
Bern
Marcel Wyler
Telefon: 0041 31 632 3720
E-Mail-Adresse: marcel.wyler@insel.ch
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