Medizin am Abend Berlin - MaAB-Fazit: Neue neurologische Klassifikation von Schluckstörungen
- Schluckstörungen (Dysphagien) sind ein häufiges und oftmals unterschätztes Problem bei einer Vielzahl von neurologischen Erkrankungen bzw. Patientengruppen.
Es handelt sich nicht nur um ein Symptom, sondern ein multi-ätiologisches Syndrom.
Eine Videoendoskopie-Studie [1] zu den krankheitsübergreifenden Störungsmustern der Dysphagien stellt eine neue neurologische Klassifikation vor, die helfen soll, die weitere Forschung und Diagnostik zu verbessern sowie die Behandlung von neurologischen Patientinnen und Patienten mit Dysphagie künftig mit zielgerichteten therapeutischen Interventionen zu ergänzen und optimieren.
- Der Schluckakt ist ein hochkomplexer Vorgang, bei dem mehr als 25 Muskelpaare koordiniert werden müssen.
- Neurologische Erkrankungen sind die häufigste Ursache einer Schluckstörung (Dysphagie), die nicht nur zu einer erheblichen Einschränkung der Lebensqualität, sondern auch zu schwerwiegenden klinischen Komplikationen führen kann.
Dazu gehören Mangelernährung, Dehydratation und unzureichende Medikamenteneinnahme.
Insbesondere, wenn Nahrungsinhalt in die Atemwege gelangt (Aspiration),
sind lebensbedrohliche Lungenentzündungen bis hin zur Notwendigkeit
maschineller Beatmung oft die Folge.
Bezüglich der Bedeutung für die Patientinnen/Patienten sprechen die
Zahlen für sich [2]: 20–30% der von einer Demenzerkrankung Betroffenen
leiden an Schluckstörungen sowie initial ungefähr 50% aller Patientinnen
und Patienten mit Schlaganfall.
Bei schweren Schädel-Hirn-Verletzungen sind es etwa 60% und bei Patienten nach prolongierter maschineller Beatmung sogar 70–80% (meist passager).
Auch bei Parkinson-Syndromen und der Multiplen Sklerose ist das Symptom nicht selten und stellt einen Risikofaktor für die Morbidität und Mortalität dar.
- Besonders auffällig ist die Inzidenz von Dysphagiesymptomen bei 30–40% aller älteren Menschen, die noch ein unabhängiges Leben führen, sowie bei mehr als 50% der Pflegeheimbewohner und ca. 70% aller geriatrischen Patienten in Kliniken.
Trotz der hohen klinischen Relevanz gibt es bisher nur wenig
wissenschaftliche Evidenz für spezifische Therapien der neurogenen
Dysphagie. In einer Studie, die kürzlich in der renommierten
Fachzeitschrift „Neurology“ veröffentlicht wurde [1], wird nun erstmalig
eine Klassifikation eingeführt, bei der die Dysphagie anhand des
phänotypischen bzw. endoskopisch sichtbaren Störungsmusters eingeteilt
wird.
Ausgehend von einer systematischen Literaturrecherche und einer retrospektiven Analyse identifizierte ein interdisziplinäres Team aus Neurologen und Logopäden sieben verschiedene Störungsmuster.
Die
Störungsmuster wurden hierbei durch die sogenannte Schluckendoskopie
(FEES: „fiberoptic endoscopic evaluation of swallowing“), die eine
präzise Visualisierung des Schluckvorgangs ermöglicht, genauer
charakterisiert. Anschließend wurde die Klassifikation anhand von 1.012
FEES-Videos von Patienten mit verschiedenen neurologischen Erkrankungen
validiert.
Hierbei zeigten sich deutliche Unterschiede der Häufigkeit der sieben
verschiedenen Störungsbilder in Abhängigkeit von der neurologischen
Grunderkrankung:
(1) „Vorzeitiges Abgleiten des Nahrungsbolus in den Rachenraum/Pharynx
(= Leaking)" und
(2) „Pathologischer Schluckreflex" – diese beiden Formen traten hauptsächlich bei Schlaganfall-Patienten auf.
(3) „Residuen in den Valleculae“ (Bolusreste nach dem Schlucken in dem
Spaltraum zwischen Zungengrund und Kehldeckel), d. h. unzureichende
„pharyngeale Bolusreinigung“ – dieses Phänomen war am häufigsten beim
idiopathischen Parkinson-Syndrom.
(4) „Residuen im Sinus Piriformis" (Spaltraum, der beidseits vom
Kehldeckel zum Speiseröhreneingang verläuft) – diese Form fand sich nur
bei Muskelentzündungen/Myositis, Motoneuronerkrankungen und
Hirnstamminfarkten als Ausdruck einer Störung des oberen
Ösophagus-Verschlussmuskels/-sphinkters.
(5) „Pharynglolaryngeale Bewegungsstörungen" (also im
Rachen-Kehlkopf-Bereich) wurden bei atypischen Parkinson-Syndromen und
Schlaganfall gefunden.
(6) „Fatigue des Schluckens" war häufig bei Myasthenia Gravis (eine seltene, autoimmun bedingte Muskelschwäche) und
(7) „Komplexe Dysphagie" mit einem gemischten Störungsmuster war der
führende Mechanismus bei amyotropher Lateralsklerose (ALS).
„Diese Klassifikation mit Fokus auf das Störungsmuster ist ein Novum und
komplementiert bisherige Klassifikationen, die sich ausschließlich auf
den Schweregrad der Dysphagie beschränken“, kommentiert Prof. Dr. Tobias
Warnecke (Münster) als Erstautor die Ergebnisse.
„Die Daten zeigen eindrucksvoll, dass die neurogene Dysphagie - vergleichbar mit Aphasie und Dysarthrie - kein bloßes Symptom, sondern ein multi-ätiologisches Syndrom darstellt“.
Dr. Bendix Labeit (Münster), ebenfalls Erstautor, erläutert die Bedeutung für die therapeutische Forschung: „Neben krankheitsspezifischen Befunden zeigen sich auch krankheitsübergreifende Störungsmuster.
Zukünftig können ausgehend von dieser Studie transdiagnostische und störungsmusterspezifische Therapieansätze untersucht werden“.
Prof. Dr. Rainer Dziewas (Osnabrück), federführender Autor der DGN-Leitlinie „Neurogene Dysphagien“ [2], betont ebenfalls die differentialdiagnostische und -therapeutische Bedeutung der Klassifikation:
„Bei vielen neurologischen Krankheitsbildern,
insbesondere bei Parkinson-Syndromen und neuromuskulären Erkrankungen,
können spezifische Dysphagiecharakteristika entscheidende Hinweise auf
die Grunderkrankung liefern und so die Diagnosestellung erleichtern,
aber auch helfen, therapeutische Interventionen zielgerichteter
einzusetzen“.
„Die neue neurologische Klassifikation von Dysphagien hat das Potenzial,
die klinische Forschung in diesem Bereich erheblich zu stimulieren, und
bietet vor allem eine Grundlage, um die Versorgung von neurologischen
Patienten in Zukunft weiter zu verbessern“, resümiert Prof. Dr. Peter
Berlit, Generalsekretär der DGN. „Die DGN setzt sich intensiv für eine
patientenzentrierte Forschung ein und teilt auch hier die Hoffnung,
durch neue Therapiemöglichkeiten den immensen Leidensdruck der
Betroffenen zu erleichtern.“
Literatur
[1] Warnecke T, Labeit B, Schroeder J, et al. Neurogenic Dysphagia:
Systematic Review and Proposal of a Classification System. Neurology.
2021; 96: e876-e889
[2] Dziewas R., Pflug C. et al., Neurogene Dysphagie, S1-Leitlinie,
2020, in: Deutsche Gesellschaft für Neurologie (Hrsg.), Leitlinien für
Diagnostik und Therapie in der Neurologie. Online:
www.dgn.org/leitlinien (abgerufen am 31.03.2021). https://dgn.org/leitlinien/ll-030-111-neurogene-dysphagie-2020/
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Originalpublikation:
DOI: 10.1212/WNL.0000000000011350
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