Medizin am Abend Berlin - MaAB-Fazit: 70 Prozent nahmen Substanzen zur Erhöhung geistiger Leistung
Größte repräsentative Studie zu Verbreitung von „Neuro-Enhancern“ in Deutschland
Aufgrund von Stress, Termindruck und dem Drang zur Leistungssteigerung
greifen viele Menschen zu legalen oder illegalen Substanzen, um ihre
geistige Leistungsfähigkeit zu erhöhen – also ihre Konzentration,
Wachheit oder ihr Gedächtnis.
Wie viele Personen solche „Neuro-Enhancer“ (sinngemäß: Hirndoping-Mittel) tatsächlich nutzen und welchen persönlichen Hintergrund sie haben, untersuchten Forschende der Universität Bielefeld, der Universität zu Köln, des Institut de recherches cliniques de Montréal in Kanada, der Universität Erfurt und der Universitätsklinik Köln.
Dr. Sebastian Sattler von der Universität Bielefeld leitete die größte repräsentative Studie zu Neuro-Enhancement in Deutschland. Foto: Valerie Kloubert
Ausgewertet wurden Daten von mehr als 22.000 Teilnehmenden.
Es
handelt sich damit um die bislang größte repräsentative Studie zur
Verbreitung von Neuro-Enhancern in Deutschland.
Die Studie ist im Fachjournal „Deviant Behavior“ erschienen und aus dem
Projekt „Enhance“ hervorgegangen, das Dr. Sebastian Sattler von der
Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld zusammen mit Professor
Dr. Guido Mehlkop von der Staatswissenschaftlichen Fakultät der
Universität Erfurt leitet. Das Projekt wird von der Deutschen
Forschungsgemeinschaft gefördert. Frühere Studien beruhten auf deutlich
weniger Fällen, verwendeten oft keine repräsentativen Stichproben oder
hatten uneindeutige Befunde. Auch sind existierende Studien bereits
einige Jahre alt. Die Enhance-Studie liefert nun solide, neue Daten.
Koffeinhaltige Getränke sind weit vorne, gefolgt von Nahrungsergänzungs- und Hausmitteln
Erfasst wurde, ob und wie häufig die Beteiligten in der Vergangenheit legale Mittel wie Koffein und Koffeintabletten, Nahrungsergänzungsmittel und Hausmittel, verschreibungspflichtige Medikamente und illegale Drogen zur Steigerung der geistigen Leistung nutzten, ohne dass es medizinische Gründe dafür gab.
Gefragt wurde auch nach persönlichen
Merkmalen wie Alter, Geschlecht, Bildungshintergrund,
Beschäftigungsstatus und Einkommen.
Insgesamt haben laut der Befragung sieben von zehn Befragten (69,9
Prozent) in den vergangenen zwölf Monaten mindestens eines der Mittel
zur Leistungssteigerung genommen – viele davon konsumierten auch mehr
als eine Substanz.
Am verbreitetsten waren koffeinhaltige Getränke, wozu neben Kaffee
beispielsweise Energydrinks gehören: 64,2 Prozent der Befragten gaben
an, diese in den vergangenen zwölf Monaten ausdrücklich mit dem Ziel
einer Leistungssteigerung konsumiert zu haben.
Am zweithäufigsten kamen
Nahrungsergänzungsmittel und Hausmittel wie Ginkgo biloba zum Einsatz
(31,4 Prozent). 3,7 Prozent der Befragten gaben zudem an, aktuell ohne
medizinische Notwendigkeit verschreibungspflichtige Medikamente
einzunehmen (auf die Lebenszeit bezogen: 5,5 Prozent), was immerhin etwa
2,5 Millionen Nutzenden (Lebenszeit: 3 Millionen) entspricht.
40 Prozent können sich vorstellen, Medikamente zur Leistungssteigerung zu nehmen
„Von diesen Personen gab knapp jede Dritte an, solche Mittel innerhalb
eines Jahres sogar 40-mal und häufiger genutzt zu haben“, sagt Sattler,
Erstautor der Studie. Etwa 40 Prozent der Befragten lehnen eine
zukünftige Nutzung solcher Medikamente zur Leistungssteigerung nicht
grundsätzlich ab. „Diese Zahl hat uns überrascht.
Es scheint eine große
Bereitschaft zu geben, Medikamente zur Leistungssteigerung zu nehmen,
für die aus medizinischer Sicht kein Bedarf besteht.“
Außerdem gaben 4,1 Prozent der Befragten an, in den vergangenen zwölf Monaten Cannabis eingenommen zu haben, vermutlich um durch Stressabbau wieder leistungsfähig zu werden oder auch um die Kreativität anzuregen.
Die Einnahme weiterer illegaler Substanzen, wie Kokain oder Amphetamin, war im Zwölfmonatszeitraum mit 1,4 Prozent eher selten.Die Einnahme der verschiedenen Substanzen variiert über die gesellschaftlichen Gruppen. Interessant sei beispielsweise, so Sattler, dass Männer eher zu Koffeintabletten und illegalen Drogen wie Kokain griffen als Frauen, um ihre geistige Leistung zu steigern. Auch in städtischen im Vergleich zu ländlichen Gebieten zeichnete sich eine stärkere Verbreitung illegaler Drogen ab.
Zusammenhang zwischen Alter und Konsumverhalten
Drei altersspezifische Trends der Neuro-Enhancer-Nutzung sind in der Studie erkennbar:
- „Um ihre Leistung zu steigen, konsumieren Menschen im Alter von 35 bis 44 Jahren und jüngere Personen deutlich häufiger koffeinhaltige Getränke und Koffeintabletten als Ältere“, sagt Professor Dr. Guido Mehlkop von der Staatswissenschaftlichen Fakultät und dem Institute for Planetary Health Behaviour der Universität Erfurt.
- - Verschreibungspflichtige Medikamente ohne medizinische Notwendigkeit zur Leistungssteigerung nimmt diese Altersgruppe am wenigsten ein, dafür greifen Jüngere und Ältere deutlich mehr darauf zurück.
„Wir fragen
uns, woran das liegt“, sagt Mehlkop „Bei älteren Personen ließe sich
vermuten, dass die geistige Leistung nachlässt und sie dies kompensieren
wollen, um weiter die Anforderungen im Job zu erfüllen.“
- Illegale Substanzen wiederum werden vor allem von jüngeren Personen
bis zu einem Alter von 34 Jahren konsumiert. Danach reduziert sich die
Wahrscheinlichkeit einer Nutzung stark.
Einnahme basierend auf persönlicher Erwartung trotz teils dünner Evidenz
- Laut Sattler ist interessant, dass viele Menschen Substanzen einnehmen, obwohl unklar ist, ob diese wirklich die kognitiven Fähigkeiten wie Konzentration und Merkfähigkeit verbessern.
- Sie handeln aufgrund subjektiver Erwartung und Hoffnung, etwa weil Bekannte davon berichten oder sie etwas in den sozialen Medien gelesen haben – ähnlich wie bei Homöopathie.
Dabei riskieren sie Nebenwirkungen wie Übelkeit, Bluthochdruck und Schlafstörungen.
Teilweise führt die Einnahme zur
Selbstüberschätzung.
Zwar gibt es laut Ko-Autor Professor Dr. Uwe Fuhr vom Zentrum für
Pharmakologie der Uniklinik Köln durchaus Substanzen, die auch bei
Gesunden Wirkungen zeigen:
„Aber auch Medikamente mit den Wirkstoffen Modafinil oder Methylphenidat, die unter anderem bei Tagesschläfrigkeit und einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) verschrieben werden, können nicht nur bei Personen mit solchen Indikationen einzelne Aspekte der kognitiven Leistung unterstützen, sondern auch bei Gesunden.
Aber längst nicht alles, was derzeit
geschluckt wird, hat die erwünschte Wirkung.“
Ein Verhalten mit vielen Fragezeichen
Mehlkop weist auf die rechtlichen, sozialen und ethischen Implikationen
hin, die sich aus den Nebenwirkungen solcher leistungssteigernden Mittel
ergeben. „Es besteht die Frage, ob sie einen unfairen Vorteil
verschaffen, vergleichbar mit Doping im Sport“, sagt er. Zudem setzen
sich Menschen bei der Kombination solcher Substanzen oft unbekannten
Gesundheitsrisiken aus.
Sattler zufolge, der auch dem Center for Uncertainty Studies (CeUS) an
der Universität Bielefeld angehört, stellt sich daher die Frage nach
Vorbeugung:
„Wie lassen sich das Arbeitsleben und die Gesellschaft gestalten, um die Risiken zu minimieren?“
- Dafür sollten Arbeitgeber bessere Arbeitsbedingungen schaffen, indem beispielsweise Unsicherheiten durch befristete Verträge reduziert werden oder Überstunden eingedämmt werden.
Guido Mehlkop schlägt vor, in Zusammenarbeit mit Krankenkassen Stress- und Resilienztrainings anzubieten.
Außerdem sollten gesündere
Alternativen wie Sport, Meditation und erholsamer Schlaf besser beworben
werden. Eine Forschungsfrage ist, ob solche Strategien den
Substanzkonsum reduzieren können. Antworten dazu sind auf der
Enhance-Konferenz vom 10. bis 12. Dezember am Zentrum für
interdisziplinäre Forschung (ZiF) der Universität Bielefeld zu erwarten.
„Deviant Behavior“
Das Journal ist die einzige wissenschaftliche Zeitschrift mit
Peer-Review, die sich exklusiv mit sozialer Abweichung befasst. Die
Zeitschrift besitzt einen Impact-Faktor von 1,6 (2022).
70 Prozent nahmen Substanzen zur Erhöhung geistiger Leistung
Dr. Sebastian Sattler, Universität Bielefeld
Fakultät für Soziologie
Telefon 0521 106-6948 (Sekretariat)
E-Mail: sebastian.sattler@uni-bielefeld.de
Jörg Heeren Universität Bielefeld
Universitätsstr. 25
33615 Bielefeld
Postfach 10 01 31
33501 Bielefeld
Deutschland
Nordrhein-Westfalen
Ingo Lohuis
Telefon: 0521/106-4145
E-Mail-Adresse: ingo.lohuis@uni-bielefeld.de
Jörg Heeren
Telefon: 0521 / 106 - 4199
E-Mail-Adresse: joerg.heeren@uni-bielefeld.de
Zentrum für interdisziplinäre Forschung (ZiF)
Telefon: 0521 106 2785
E-Mail-Adresse: manuela.lenzen@uni-bielefeld.de
Originalpublikation:
Sebastian Sattler, Floris van
Veen, Fabian Hasselhorn, Lobna El Tabei, Uwe Fuhr, Guido Mehlkop,
Prevalence of Legal, Prescription, and Illegal Drugs Aiming at Cognitive
Enhancement across Sociodemographic Groups in Germany. Deviant
Behavior,
https://doi.org/10.1080/01639625.2024.2334274, erschienen am 18. April 2024, im Open Access verfügbar seit 15. Mai 2024.
Weitere Informationen für international Medizin am Abend Berlin Beteiligte
https://gepris.dfg.de/gepris/projekt/358282780?context=projekt&task=showDeta...;
DFG-Projekt „Cognitive Enhancement in Deutschland: Verbreitung, Beschaffungsstrategien, Ursachen und Implikationen“ (Enhance)
https://www.uni-bielefeld.de/einrichtungen/zif/events/#/event/7466
Website zur Konferenz am Zentrum für interdisziplinäre Forschung
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