Medizin am Abend Berlin - MaAB-Fazit: Alzheimer: Therapie muss frühzeitig beginnen
Eiweißablagerungen im Gehirn sind Ursache und Ansatzpunkt für Therapien – in späteren Stadien scheint sich jedoch die Krankheitsentwicklung von ihnen abzukoppeln, so Tübinger Forschende
Hirngewebe einer Maus mit Alzheimer-ähnlichen Symptomen. Die Beta-Amyloid-Plaques sind rot angefärbt. Jucker Lab HIH / DZNE
Hauptursache für die Entstehung der Alzheimerkrankheit scheint die Ablagerung eines bestimmen Eiweißes, des Beta-Amyloid-Proteins, im Gehirn zu sein – so der aktuelle Stand der Alzheimerforschung.
Die Bildung dieser sogenannten Plaques beginnt mindestens zwanzig Jahre vor den ersten Krankheitssymptomen.
Bislang fand man bei Erkrankten jedoch nur einen schwachen Zusammenhang zwischen der Menge der Ablagerungen und den klinischen Symptomen.
Grund dafür könnte sein, dass sich die Krankheit in fortschreitenden Stadien unabhängig von den Plaques weiterentwickelt. Das legt eine aktuelle Studie von Forschenden um Professor Dr. Mathias Jucker vom Hertie-Institut für klinische Hirnforschung, der Universität Tübingen und dem Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) nahe.
Eine Therapie müsse daher so
frühzeitig wie möglich begonnen werden, so Jucker. Die Ergebnisse sind
in der aktuellen Ausgabe der renommierten Zeitschrift „Nature
Communications“ erschienen.
„Es gibt überzeugende Beweise dafür, dass die Beta-Amyloid-Plaques die
wichtigste Ursache der Alzheimererkrankung sind“, sagt Neurobiologe und
Studienleiter Jucker. „Es existiert jedoch nur eine schwache Korrelation
zwischen ihnen und den klinischen Symptomen.“ So sei die Verzögerung
von zwanzig Jahren zwischen dem Entstehen der ersten Plaques und dem
Auftreten der Krankheitssymptome sehr lang. Auch führe die Reduzierung
schädigender Eiweißablagerungen im Gehirn von Probanden im Rahmen von
klinischen Studien zu einer nur kleinen Verbesserung von deren
Hirnleistungen. „All diese Befunde haben nahegelegt, dass die
Alzheimer-Krankheitskaskade in späteren Stadien von den
Proteinablagerungen unabhängig werden könnte.“
Das Tübinger Forschungsteam liefert nun erstmals experimentelle Belege
für die Entkopplung der Ablagerungen von der nachgeschalteten
Neurodegeneration. In ihrer Studie untersuchte es Mäuse, die als
Alzheimermodell dienen. Bei ihnen lagern sich – wie bei
Alzheimererkrankten – mit fortschreitendem Lebensalter
Beta-Amyloid-Eiweiße im Gehirn ab.
Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler reduzierten nun bei den
Mäusen in unterschiedlichen Altersstadien gezielt die Plaques. Dann
maßen sie ein weiteres Protein im Hirnwasser der Mäuse, das sogenannte
Neurofilament-Leichtketten-Protein (NfL).
Das NfL-Protein ist im
Hirnwasser von Alzheimererkrankten erhöht; es gilt als Anzeiger für den
Abbau von Nervenzellen.
Das Ergebnis: „Wenn wir die Beta-Amyloid-Ablagerung in frühen Stadien
reduzierten, stieg die Menge an NfL-Protein im Hirnwasser nicht mehr an.
Wir konnten den Abbau der Nervenzellen stoppen“, so Christine Rother, Erstautorin der Studie. Ein anderes Bild ergab sich im höheren Lebensalter:
„Wenn wir die Bildung der Beta-Amyloid-Plaques in späteren Stadien reduzierten, stieg der Pegel des NfL-Proteins im Hirnwasser unverändert an.
Es starben also weiterhin Nervenzellen.
Die
Neurodegeneration hatte sich von den Ablagerungen entkoppelt“, ergänzt
Ruth Uhlmann, Co-Erstautorin der Arbeit.
„Es scheint bei Alzheimer also zwei Phasen der Krankheitsentwicklung zu
geben“, schlussfolgert Jucker.
In der ersten Phase trieben die Beta-Amyloid-Plaques die Krankheit voran.
Zu diesem Zeitpunkt seien Therapien, die den Ablagerungen entgegenwirken, höchst effektiv.
In der zweiten Phase schreite hingegen die Neurodegeneration unabhängig von den Plaques fort.
Gegen die Beta-Amyloid-Plaques gerichtete Therapien
verfehlen nun weitgehend ihre Wirkung.
Doch wo liegt der Wendepunkt zwischen beiden Phasen?
Um Antwort zu bekommen, analysierte das Forschungsteam die zeitliche Abfolge der Bildung der Beta-Amyloid-Plaques und dem Anstieg des NfL-Proteins im Hirnwasser von präsymptomatischen Probanden und Mäusen.
Das Team stellte fest, dass beide Werte anfangs ähnlich anstiegen.
„Zu einem bestimmten
Zeitpunkt schoss die Menge des NfL-Proteins exponentiell in die Höhe“,
berichtet Jucker. „Die Menge der Beta-Amyloid-Plaques stieg jedoch nicht
in vergleichbarem Maße an.“
Diese Entkoppelung des Anstiegs des NfL-Proteins von der Bildung der
Beta-Amyloid--Plaques sei zu einem Zeitpunkt geschehen, als sich rund
die Hälfte der späteren Höchstmenge an Plaques gebildet hatte.
„Das ist bei Patientinnen und Patienten etwa zehn Jahre nach den ersten Ablagerungen und zehn Jahre vor Auftreten der ersten Symptome der Fall“, so Jucker.
„Der Zeitraum, in dem die gegen Beta-Amyloid-Plaques gerichtete Therapien am wirksamsten sind, scheint damit früher zu liegen als der, der in den bisherigen klinischen Studien angestrebt wurde.
Künftige Alzheimertherapien, die gegen Beta-Amyloid-Plaques gerichtet sind, sollten daher unbedingt frühzeitiger ansetzen.“
Prof. Dr. Mathias Jucker
Hertie-Institut für klinische Hirnforschung
Universität Tübingen
Deutsche Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE)
Telefon +49 7071 29-86863
mathias.jucker[at]uni-tuebingen.de
Dr. Mareike Kardinal Hertie-Institut für klinische Hirnforschung (HIH)
Otfried-Müller-Straße 27
72076 Tübingen
Deutschland
Baden-Württemberg
E-Mail-Adresse: mareike.kardinal@medizin.uni-tuebingen.de
Dr. Mareike KardinalTelefon: 07071 –29 8800
Fax: 07071 –29 225154
E-Mail-Adresse: mareike.kardinal@medizin.uni-tuebingen.de
Originalpublikation:
Rother et al. (2022):
Experimental evidence for temporal uncoupling of brain Aβ deposition and
neurodegenerative sequelae. Nature Communications, 13, 7333 (2022)
https://doi.org/10.1038/s41467-022-34538-5
Weitere Informationen für international Medizin am Abend Beteiligte
http://www.hih-tuebingen.de Hertie-Institut für klinische Hirnforschung
https://uni-tuebingen.de Eberhard Karls Universität Tübingen
https://www.dzne.de Deutsches Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE)
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