Medizin am Abend Berlin - MaAB-Fazit: Bei Hunger baut die Zelle um
Körperzellen verbrennen Fettreserven, wenn die Versorgung mit Nährstoffen aus der Nahrung unterbleibt.
Ein Team um Prof. Volker Haucke und Dr. Wonyul Jang vom Leibniz-Forschungsinstitut für Molekulare Pharmakologie (FMP) hat nun einen bislang unbekannten Mechanismus entdeckt, wie dieser „Hungerstoffwechsel“ in Gang kommt – und was ihn hemmen kann.
Die Ergebnisse wurden im angesehenen internationalen Fachblatt Science veröffentlicht.
Damit unser Körper funktioniert, brauchen Zellen Energie – und zwar
zu jeder Zeit.
- In Hunger-Phasen, während derer keine Nährstoffe aufgenommen werden, muss sich der zelluläre Stoffwechsel also umstellen, damit die Versorgung mit Energie sichergestellt bleibt.
Neue Erkenntnisse über diesen grundlegenden Mechanismus in der menschlichen Zelle gewannen Forschende des FMP, als sie eine seltene, erblich erworbene Muskelstörung untersuchten, die X-chromosomale Myotubuläre Myopathie (XLCNM). Bei dieser Erkrankung, die meist Jungen betrifft, ist ein Gen auf dem X-Chromosom defekt, was zu einer Entwicklungsstörung der Skelettmuskulatur führt. Diese Muskelschwäche ist so stark ausgeprägt, dass betroffene Kinder oft beatmet werden und im Rollstuhl sitzen müssen. Sie erreichen ein maximales Alter von etwa 10 bis 12 Jahren, in schweren Fällen sterben sie bereits nach der Geburt.
Der bei dieser Erkrankung vorliegende Gendefekt betrifft die
Lipidphosphatase MTM1. Dieses Enzym steuert den Umsatz eines
Signallipids des Endosoms, eine bläschenartige Struktur in der Zelle,
die an der Sortierung von Nährstoffrezeptoren beteiligt ist. Als die
Forschenden die Struktur mutierter humaner Muskelzellen aus Patienten
studierten, entdeckten sie Veränderungen am Endoplasmatischen Retikulum
(ER), einem Membrannetzwerk, das sich über die ganze Zelle erstreckt. In
gesunden Zellen stellt das ER eine Mischung miteinander verbundener
ausgedehnter, „plattgewalzter“ Membransäcke in der Nähe des Zellkerns
und dünner Schläuche in der Zellperipherie dar. In den kranken Zellen
ist dieses Gleichgewicht in Richtung der dünnen Schläuche verschoben und
die Membransäcke sind zudem durchlöchert. Eine ganz ähnliche
Anreicherung dünner ER-Schläuche und durchlöcherter Membransäcke fanden
die Forscher in Zellen im Hungerzustand, in denen MTM1 genetisch
inaktiviert wurde.
„Muskeln sind sehr hungersensibel, ihre Energiereserven halten nicht
lange. Deswegen begannen wir zu vermuten, dass der Defekt in Zellen von
XLCNM-Patienten mit einer inkorrekten Antwort auf Hunger zu tun haben
könnte“, berichtet Volker Haucke. Bei Hunger entsteht in Zellen ein
Mangel an Aminosäuren. Daraufhin, so fanden die Forschenden heraus,
verändert das ER in gesunden Zellen seine Form, die äußeren dünnen
Schläuche bilden sich zurück und werden zu flachen Membransäcken
umgebaut. Diese veränderte Struktur des ER ermöglicht es den
Mitochondrien – rundliche Organellen, die die Zelle mit Energie
(Adenosintriphosphat, ATP) versorgen und mit dem ER in ständigem Kontakt
stehen –, miteinander zu verschmelzen. „Solche etwa zehnfach
vergrößerten ‚Riesen-Mitochondrien‘ sind viel besser in der Lage, Fette
zu verstoffwechseln“, erläutert Dr. Wonyul Jang, Erstautor der Studie.
Sowohl der Transport als auch die Verbrennung der Fette funktioniert
allerdings nicht in Zellen, in denen MTM1 defekt ist. Die Schlüsselrolle
spielt dabei das von MTM1 gesteuerte Endosom. Bei Hunger lösen sich in
der gesunden Zelle die Kontaktstellen zwischen Endosom und ER auf, das
sich in der Folge verformen kann. In Zellen von XLCNM-Patienten bleibt
die Kontaktablösung jedoch aus: Das Endosom „zieht“ am ER, so dass
periphere Schläuche gebildet werden und die Membransäcke fenestrieren.
Da periphere ER-Schläuche für die Teilung der Mitochondrien
verantwortlich sind, bleiben diese in Abwesenheit von MTM1 klein. In
dieser Form sind sie viel schlechter in der Lage, Speicherfette zu
verbrennen, was zu einem massiven Energiemangel in der Zelle führt (1).
„Wir haben einen komplett neuen Mechanismus gefunden, wie verschiedene
Kompartimente in der Zelle so miteinander kommunizieren, dass der
Zellstoffwechsel je nach Nahrungsangebot umgebaut wird“, fasst Volker
Haucke zusammen. Dabei zeigt die aktuelle Arbeit, dass Hungern für die
Muskelzellen von XLCNM-Patienten absolut schädlich ist. Sie brauchen
stetige Nahrungszufuhr, um einen Abbau der Muskelproteine zu Aminosäuren
zu verhindern. In einer zweiten Arbeit (2) konnten Forschende des FMP
zeigen, dass sich Defekte infolge des Verlustes der Lipidphosphatase
MTM1 durch Inaktivierung des „entgegengesetzten“ Enzyms, der Lipidkinase
PI3KC2B, grundsätzlich wieder reparieren lassen. Ob das bei
XLCNM-Patienten funktionieren könnte, wird die Zukunft erweisen. Aktuell
arbeitet ein Team um Volker Haucke daran, einen passenden Hemmstoff zu
finden, der PI3KC2B ausschalten kann. Dass das grundsätzlich möglich
ist, konnten sie bereits in Zellkultur nachweisen.
Professor Dr. Volker Haucke
Direktor am Leibniz-Forschungsinstitut für Molekulare Pharmakologie (FMP)
Professor für Molekulare Pharmakologie an der Freien Universität Berlin
Mitglied des Exzellenzclusters NeuroCure
Robert-Rössle-Str.10
13125 Berlin, Campus Berlin-Buch
E-Mail: haucke@fmp-berlin.de
www.leibniz-fmp.de/haucke
Silke Oßwald Leibniz-Forschungsinstitut für Molekulare Pharmakologie (FMP)
Telefon: 030 / 94793 - 104Fax: 030 / 94793 - 109
E-Mail-Adresse: osswald@fmp-berlin.de
Originalpublikation:
(1) Jang, W., Puchkov, D.,
Samso, P., Liang, Y.T., Nadler-Holly, M., Sigrist, S.J., Kintscher, U.,
Liu, F., Mamchaoui, K., Mouly, V., Haucke, V. (2022) Endosomal lipid
signalling reshapes the endoplasmic reticulum to control mitochondrial
function. Science, 10.1126/science.abq5209
(2) Samso, P.*, Koch, P.A.*, Posor, Y., Lo, W.T., Belabed, H., Nazare,
M., Laporte, J., Haucke, V. (2022) Antagonistic control of active
surface integrins by myotubularin and phosphatidylinositol 3-kinase C2b
in a myotubular myopathy model. Proc Natl Acad Sci USA 119, e2202236119
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