Medizin am Abend Berlin - MaAB-Fazit: Auch ohne Arztbesuch: Neues nicht-klinisches Modell sagt zuverlässig Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen vorher
Ob Blutdruckmessung oder Blutfettanalyse – eine zuverlässige Risiko-Abschätzung für Herz-Kreislauf-Erkrankungen setzt bislang medizinische Untersuchungen und damit den Besuch einer Arztpraxis voraus.
Ein Team um Dr. Catarina Schiborn und Prof. Matthias Schulze vom DIfE hat nun in Kooperation mit dem Deutschen Krebsforschungszentrum in Heidelberg ein Vorhersagemodell entwickelt, mit dessen Hilfe sich auch ohne Arztbesuch einfach und präzise ermitteln lässt, wie hoch das Risiko eines Menschen ist, innerhalb der nächsten zehn Jahre einen Herzinfarkt oder Schlaganfall zu erleiden.
Das Modell lässt sich auch für Empfehlungen nutzen, wie das individuelle Erkrankungsrisiko gesenkt werden kann.
Unter dem Begriff Herz-Kreislauf-Erkrankungen werden die vielfältigen Erkrankungen des Herzens und der Blutgefäße zusammengefasst.
Dazu zählen insbesondere Herzinfarkt und Schlaganfall sowie Erkrankungen der Herzkranzgefäße.
Herz-Kreislauf-Erkrankungen sind hierzulande mit 40 Prozent aller Sterbefälle die häufigste Todesursache.
- Neben unveränderbaren Faktoren wie Alter, Geschlecht und genetischer Veranlagung hat der Lebensstil einen großen Einfluss auf die Gesundheit des Herz-Kreislauf-Systems.
- Ein verändertes Ernährungs-, Bewegungs- und Rauchverhalten sowie die Behandlung von Bluthochdruck, Übergewicht, Diabetes und Fettstoffwechselstörungen sind demnach wichtige Stellschrauben, um das individuelle Erkrankungsrisiko zu senken.
Wie hoch dieses für einen Menschen ist, ließ sich bislang jedoch
nur aufwendig ermitteln.
Einfache Risikoermittlung birgt großes Präventionspotential
Eine zuverlässige, evidenzbasierte Risikoabschätzung für
Herz-Kreislauf-Erkrankungen beschränkt sich aktuell weitestgehend auf
den klinischen Bereich, denn sie erfordert meist körperliche
Untersuchungen und Blutanalysen durch medizinisches Personal.
„Die wenigen Vorhersagemodelle, die sich unabhängig von einer medizinischen Untersuchung nutzen lassen, haben methodische Einschränkungen und ihre Anwendung erfordert beispielsweise Informationen zur Aufnahme einzelner Nährstoffe wie Ballaststoffe.
Dadurch sind sie ohne eine umfassende Datenerhebung zur Ernährung kaum
anwendbar“, erklärt Dr. Catarina Schiborn, wissenschaftliche
Mitarbeiterin der Abteilung Molekulare Epidemiologie am DIfE.
Ziel der Wissenschaftlerin war es daher, ein evidenzbasiertes
Vorhersagemodell zu entwickeln, welches das Erkrankungsrisiko unabhängig
vom Arztbesuch ermittelt und dabei leicht zu erfassende Informationen
nutzt. „Ein solches Werkzeug würde die Präventionsmöglichkeiten
erheblich verbessern, denn durch den breiten Einsatz könnten
Hochrisikopersonen frühzeitig auch im Rahmen von zum Beispiel
Gesundheitskampagnen und -screenings erkannt, informiert und im weiteren
Verlauf behandelt werden“, sagt Schiborn.
Daten von 27.500 Menschen als Basis
Für die Entwicklung des Vorhersagemodells hat das Forscherteam auf die
Gesundheits- und Lebensstil-Daten von rund 27.500 Teilnehmenden der
EPIC-Potsdam-Studie zurückgegriffen. In die statistischen Modellierungen
flossen Parameter ein, die für die Vorhersage von
Herz-Kreislauf-Erkrankungen relevant sind.
Dazu zählen Faktoren wie Alter, Geschlecht, Hüftumfang, Rauchverhalten, Bluthochdruck und Typ-2-Diabetes sowie Erkrankungsfälle in der Familie.
Außerdem erfasst das Modell Ernährungsgewohnheiten, wie beispielsweise den Verzehr von Vollkornprodukten, rotem Fleisch und Pflanzenölen.
Anhand dieser Daten
gelang es den Forschenden zuverlässig zu berechnen, wie groß das Risiko
eines Menschen ist, innerhalb der kommenden zehn Jahre einen Herzinfarkt
oder einen Schlaganfall zu erleiden.
Um zu bewerten, wie gut das Modell das Eintreten dieser sogenannten
Endpunkte vorhersagt, nutzten die Forschenden Daten der vom Deutschen
Krebsforschungszentrum koordinierten Heidelberger EPIC-Studie.
Zudem
verglichen sie ihre Berechnungen mit etablierten Vorhersagemodellen, die
klinische Parameter einschließen. Das Ergebnis: Das entwickelte
nicht-klinische Vorhersagemodell sagt die Wahrscheinlichkeit einer
Herz-Kreislauf-Erkrankung für die nächsten zehn Jahre ebenso präzise
voraus wie klinische Modelle, die eine medizinische Untersuchung
erfordern. Eine ebenfalls entwickelte Erweiterung, die klinische
Parameter berücksichtigt, verbesserte die Vorhersagegüte nur wenig.
Fokus auf die Rolle des Lebensstils
„Dass unser Vorhersagemodell sich im Vergleich zu klinischen Tests
stärker auf Verhaltensparameter stützt, ist ein großer Vorteil“, sagt
Prof. Dr. Matthias Schulze, Leiter der Abteilung Molekulare
Epidemiologie am DIfE. „So tritt die Bedeutung eines präventiven
Lebensstils für die Herz- und Gefäßgesundheit in den Vordergrund, statt
den Fokus auf die medikamentöse Behandlung als Konsequenz eines
unvorteilhaften Lebensstils zu richten“. Da das Modell beeinflussbare
Risiken wie Hüftumfang, Rauch- und Ernährungsverhalten berücksichtigt,
kann es für konkrete individuelle Empfehlungen genutzt werden, wie sich
das Erkrankungsrisiko durch eine Verhaltensänderung senken lässt.
In einem nächsten Schritt wollen die Wissenschaftlerinnen und
Wissenschaftler das Vorhersagemodell in Form eines Risiko-Tests als frei
verfügbaren Papier- und Online-Fragebogen zur Verfügung stellen.
Geplant ist, das Online-Tool mit dem ebenfalls am DIfE entwickelten DIfE
– Deutscher Diabetes-Risiko-Test® (DRT) zusammenzuführen, so dass eine
kombinierte Risiko-Vorhersage für eine Typ-2-Diabetes-und
Herz-Kreislauf-Erkrankung möglich ist. Wie der DRT wurde die Entwicklung
des Vorhersagemodells für Herz-Kreislauf-Erkrankungen vom Deutschen
Zentrum für Diabetesforschung (DZD) finanziell gefördert.
Hintergrundinformationen
Evidenzbasiert
Das Adjektiv beschreibt, dass etwas auf Grundlage empirisch
zusammengetragener und bewerteter wissenschaftlicher Erkenntnisse
erfolgt. Ein evidenzbasiertes Vorhersagemodell wie das Modell zur
Vorhersage des 10-Jahres-Risikos für Herz-Kreislauf-Erkrankungen stützt
sich also auf wissenschaftlich nachgewiesene und quantifizierbare
Zusammenhänge zwischen der Erkrankung und ihren Risikofaktoren.
EPIC-Potsdam-Studie
Die European Prospective Investigation into Cancer and Nutrition
(EPIC)-Potsdam-Studie ist eine bevölkerungsbasierte prospektive
Kohortenstudie des DIfE. Sie ist Teil der EPIC-Studie, einer der größten
Kohortenstudien der Welt, die das Ziel hat, Beziehungen zwischen
Ernährung, Ernährungsstatus, Lebensstil und Umweltfaktoren sowie der
Inzidenz von Krebs und anderen chronischen Krankheiten wie
Typ-2-Diabetes zu untersuchen. Bei prospektiven Kohortenstudien wird
eine große Gruppe gesunder Menschen zunächst umfangreich untersucht und
anschließend über einen langen Zeitraum beobachtet, welche Krankheiten
auftreten. Die Beobachtungen können Hinweise auf Risikofaktoren für
häufige Erkrankungen liefern.
Die ca. 27.500 Teilnehmenden der EPIC-Potsdam-Studie wurden zwischen
1994 und 1998 rekrutiert und untersucht, zum Beispiel der Blutdruck und
die Körpermaße bestimmt. Außerdem wurden sie zu ihren
Ernährungsgewohnheiten und ihrem Lebensstil befragt und Blutproben
entnommen. Im noch immer laufenden Nachbeobachtungszeitraum wurden die
Studienteilnehmenden bislang sechsmal zu ihren Ernährungsgewohnheiten,
ihrem Lebensstil und aufgetretenen Erkrankungen befragt. Seit 2014
erfolgen in begrenztem Umfang auch Nachfolgeuntersuchungen.
https://www.dife.de/forschung/kooperationen/epic-studie/
Dr. Catarina Schiborn
Wissenschaftliche Mitarbeiterin der Abteilung Molekulare Epidemiologie
Tel.: +49 33 200 88 - 2526
E-Mail: catarina.schiborn@dife.de
Prof. Dr. Matthias Schulze
Leiter der Abteilung Molekulare Epidemiologie
Tel.: +49 33 200 88 - 2434
E-Mail: mschulze@dife.de
Susann-C. Ruprecht Deutsches Institut für Ernährungsforschung Potsdam-Rehbrücke
Arthur-Scheunert-Allee 114/116
14558 Nuthetal, OT Bergholz-Rehbrücke
Deutschland
Brandenburg
Telefon: 033200882335
Fax: 0332008872335
E-Mail-Adresse: susann.ruprecht@dife.de
Originalpublikation:
Schiborn, C., Kühn, T.,
Mühlenbruch, K., Kuxhaus, O., Weikert, C., Fritsche, A., Kaaks, R.,
Schulze, M. B.: A newly developed and externally validated non-clinical
score accurately predicts 10-year cardiovascular disease risk in the
general adult population. Sci. Rep. 11:19609 (2021). [Open Access]
https://doi.org/10.1038/s41598-021-99103-4
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