Medizin am Abend Berlin - MaAB-Fazit: Was soziale Distanzierung mit dem Gehirn macht
Wissenschaftler entdecken ein Neuropeptid, das die soziale Umgebung von Fischen widerspiegelt
Haben Sie sich in letzter Zeit gefragt, wie sich soziale
Distanzierung und Selbstisolation auf Ihr Gehirn auswirken können? Ein
internationales Forschungsteam unter der Leitung von Erin Schuman vom
Max-Planck-Institut für Hirnforschung entdeckte ein Hirnmolekül, das als
„Thermometer" für die Anwesenheit anderer in der Umgebung eines Tieres
fungiert. Zebrafische "spüren" die Anwesenheit von Artgenossen über
spezifische mechanische Reize und Wasserbewegungen – dies aktiviert das
Gehirnhormon.
Unterschiedliche soziale Bedingungen können zu langanhaltenden
Veränderungen im Verhalten von Tieren führen. So kann beispielsweise
soziale Isolation verheerende Auswirkungen auf Menschen und Tiere,
einschließlich Zebrafische, haben. Bislang weiß man nur wenig über die
Gehirnsysteme, die die soziale Umwelt wahrnehmen. Um zu untersuchen, ob
neuronale Gene auf dramatische Veränderungen in der sozialen Umgebung
reagieren, hielten der Doktorand Lukas Anneser und seine Kollegen
Zebrafische in Isolation oder zusammen mit anderen Fischen über
verschiedene Entwicklungszeiträume hinweg. Die Wissenschaftler
verwendeten RNA-Sequenzierung, um die Expressionsniveaus von Tausenden
neuronaler Gene zu messen. Ihre Ergebnisse wurden heute in dem
Fachjournal Nature veröffentlicht.
Erfassung der Dichte von Artgenossen
„Wir fanden eine Handvoll Gene, deren Expression bei Fischen, die in
sozialer Isolation aufgezogen wurden, konsequent verändert waren. Eines
davon kodiert das Nebenschilddrüsenhormon 2 (Pth2), ein relativ
unbekanntes Peptid im Gehirn. Überraschenderweise spiegelte die
Expression von pth2 nicht nur die Anwesenheit anderer Zebrafische,
sondern auch deren Populationsdichte wieder. Als Zebrafische isoliert
wurden, verschwand pth2 im Gehirn, aber das Expressionsniveau stieg -
wie ein Thermometerstand - an, wenn sich andere Fische in demselben
Becken befanden", erklärt Anneser.
Begeistert von dieser Entdeckung testeten die Wissenschaftler, ob sich
die Auswirkungen der Isolation umkehren ließen, indem sie die zuvor
isolierten Fische in ein soziales Umfeld brachten. „Nach nur 30 Minuten
Anwesenheit von Artgenossen kam es zu einer signifikanten Erholung der
pth2-Werte. Nach 12 Stunden im Becken mit den Artgenossen waren die
pth2-Werte nicht mehr von denen zu unterscheiden, die wir bei sozial
aufgezogenen Tieren beobachteten", sagt Anneser. „Diese deutliche und
schnelle Regulation war unerwartet und deutet auf eine starke Verbindung
zwischen der Genexpression und dem sozialen Umfeld hin", so Anneser.
Welche sensorische Modalität nutzen die Tiere also, um Artgenossen zu
erkennen und so Veränderungen in der Genexpression zu bewirken?
„Wir
konnten demonstrieren, dass die sensorische Modalität, die die
pth2-Expression steuert, nicht das Sehen, Schmecken oder Riechen war,
sondern die Wahrnehmung mechanischer Reize - Zebrafische ‚fühlten'
tatsächlich die Schwimmbewegungen der sie umgebenden Artgenossen",
erklärt Schuman.
Wahrnehmung von Wasserbewegungen
Fische nehmen Bewegungen in ihrer unmittelbaren Umgebung über die
Seitenlinie, ein besonderes Sinnesorgan wahr. Um die Rolle mechanischer
Wahrnehmung bei der Steuerung der pth2-Expression zu testen, entfernte
das Team die mechanosensitiven Zellen innerhalb der Seitenlinie des
Fisches. Bei zuvor isolierten Tieren verhinderte die Entfernung dieser
Zellen den Anstieg des Neurohormons, das zuvor zuverlässig durch die
Anwesenheit anderer Fische induziert werden konnte.
So wie wir Menschen berührungsempfindlich sind, scheinen Zebrafische
besonders auf die Schwimmbewegungen anderer Fische zu reagieren.
Die
Wissenschaftler fanden heraus, dass die Wasserbewegungen, die durch das
Schwimmverhalten von Artgenossen im Becken verursacht werden,
Veränderungen der pth2-Expression induzieren. „Zebrafisch-Larven
schwimmen auf eine besondere Weise, wobei sich schnelle Flossenschläge
und kurze Gleitphasen abwechseln. Wir ahmten die resultierenden
Wasserbewegungen nach, indem wir einen Motor darauf programmierten,
Fischbewegungen zu simulieren. Interessanterweise führten die
künstlichen Bewegungen bei zuvor isolierten Fischen zu einer Erhöhung
des pth2-Expressionslevels, fast genauso wie bei echten Artgenossen",
erklärt Anneser.
- „Unsere Daten geben Hinweise auf eine überraschende Rolle für das relativ unerforschte Neuropeptid Pth2 - es erfasst die Populationsdichte des sozialen Umfeldes eines Tieres und reagiert auf Veränderungen dieser Umgebung.
Es ist klar, dass die Anwesenheit von Artgenossen dramatische Auswirkungen auf den Zugang eines Tieres zu Ressourcen und letztlich auf sein Überleben haben kann.
Daher ist es wahrscheinlich, dass dieses Neurohormon das ‚soziale Gehirn‘ und Verhaltensnetzwerke reguliert", schlussfolgert Schuman.
Über Google: Medizin am Abend Berlin
idw - Informationsdienst Wissenschaft e. V.
Prof. Dr. Erin Schuman
Direktorin, Max-Planck-Institut für Hirnforschung
+49 69 850033-1001
erin.schuman@brain.mpg.de
nicole.horny@brain.mpg.de
Max-von-Laue-Str. 4
60438 Frankfurt am Main
Deutschland
Hessen
Dr. Irina Epstein
Telefon: 069 850033 2900
E-Mail-Adresse: pr@brain.mpg.de
Originalpublikation:
Lukas Anneser, Ivan C. Alcantara, Anja Gemmer, Kristina Mirkes, Soojin Ryu, and Erin M. Schuman. The Neuropeptide Pth2 Dynamically Senses Others via Mechanosensation. Nature 2020. Online publication December 2, 2020. DOI: 10.1038/s41586-020-2988-z
Keine Kommentare :
Kommentar veröffentlichen