Medizin am Abend Berlin - MaAB-Fazit: 4 von 5 COVID-19-Patienten entwickeln neurologische Beschwerden – fehlgerichtete SARS-CoV-2-Antikörper als Ursache?
COVID-19 geht sehr häufig mit neurologischen Beschwerden einher.
Wie häufig, zeigt eine aktuell publizierte Arbeit:
Insgesamt beträgt die Prävalenz mehr als 80% und fast jeder dritte Patient erleidet eine Enzephalopathie.
Eine Arbeitsgruppe der Charité – Universitätsmedizin Berlin und des Deutschen Zentrums für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) liefert dafür eine einleuchtende Hypothese [2]:
Sie zeigte, dass einige SARS-CoV-2-Antikörper aus dem Blut von COVID-19-Patienten nicht nur an das Virus binden, um es zu neutralisieren, sondern auch an Strukturen des Gehirns und des Nervensystems.
Dadurch könnten die neurologischen Beschwerden ausgelöst werden.
COVID-19 kann zu vielen verschiedenen neurologischen Manifestationen und Komplikationen führen – und zwar unabhängig von der Schwere der Atemwegsinfektion oder anderen Organbeteiligungen.
- Die Vielzahl an Veröffentlichungen von Fallserien und Studien führte daher zur Bezeichnung „Neuro-COVID“.
- Das neurologische Beschwerdespektrum reicht dabei von Riech- und Geschmacksstörungen über Schlaganfälle, Epilepsie und Lähmungen bis zu Verwirrtheit und MS-ähnlichen Bildern.
- Auffällig ist außerdem, dass sehr viele Betroffene nach Abklingen der akuten Erkrankung nicht beschwerdefrei werden, man spricht dann von einem „Post-COVID-Syndrom“.
- Im Vordergrund stehen dabei Müdigkeit bzw. Fatigue und reduzierte Belastbarkeit; in einigen Fällen bleiben aber auch neurologische Symptome und Ausfälle zurück.
Eine aktuelle Studie aus Chicago [1] hat die Bandbreite der
neurologischen Beschwerden im Kontext einer COVID-19-Erkrankung
zusammengetragen und deren Häufigkeit evaluiert:
Fast die Hälfte der
Patienten zeigten zu Beginn der Erkrankung (42,2%) neurologische
Beschwerden, bei den Patienten, die wegen COVID-19 in ein Krankenhaus
aufgenommen werden mussten, waren es sogar fast zwei Drittel (62,7%).
Noch höher war der Anteil der Patienten, die insgesamt im Verlauf der
COVID-19-Erkrankung neurologische Beschwerden entwickelten (also nicht
nur zum Zeitpunkt des Krankheitsbeginns): das waren 82,3%, also vier von
fünf Patienten. Besonders häufig waren Muskelschmerzen (44,8%),
Kopfschmerzen (37,7%) und Enzephalopathien (31,8%), ein Sammelbegriff
für diffuse Gehirnschädigungen.
„Diese hohe Prävalenz zeigt, dass neurologische Expertise gefragt ist
und COVID-19-Erkrankte grundsätzlich neurologisch mitbetreut werden
müssen, weil gerade bei schwerer Betroffenen das Erkennen neurologischer
Manifestationen nicht einfach ist“, erklärt Professor Dr. Peter Berlit,
Generalsekretär der DGN. „Wir haben in den vergangenen Monaten gelernt,
dass COVID-19 nicht nur eine pulmonale Erkrankung ist, sondern das
Virus verschiedene Organe angreift, und dabei in einem besonderen Maße
das Gehirn und Nervensystem.“
Doch wie genau erfolgt dies und wieso entstehen überhaupt neurologische
Beschwerden in Zusammenhang mit der neuartigen Infektionskrankheit?
Eine
kürzlich publizierte Antikörper-Studie [2] der Arbeitsgruppe um Prof.
Dr. Harald Prüß von der Charité Berlin, Sprecher der DGN-Kommission
Neuroimmunologie, liefert einen plausiblen Erklärungsansatz.
Bei einer SARS-CoV-2-Infektion werden vom Immunsystem eine Vielzahl
monoklonaler Antikörper (mAbs) gegen verschiedene Strukturen des Virus
gebildet.
Nicht alle mAbs haben aber gleich gute „Virus-neutralisierende“ Eigenschaften.
Daher ist die detaillierte Charakterisierung von Virus-neutralisierenden Antikörpern und ihren Zielantigenen (bzw. Epitopen) wichtig, um die COVID-19-Pathophysiologie genauer zu verstehen und gezielte Behandlungs- und Immunisierungsstrategien zu schaffen.
In der aktuellen Studie wurden mit
dem Ziel der Entwicklung einer passiven Impfung, d.h. der Behandlung
von Erkrankten mit im Labor hergestellten schützenden Antikörpern, aus
fast 600 humanen mAbs von zehn COVID-19-Patienten 40 stark
neutralisierende Antikörper identifiziert und weiter analysiert. So
konnten diese mAbs die Lungenerkrankung bei Hamstern – die wie Menschen
anfällig für SARS-CoV-2 sind – bei früher Gabe nahezu vollständig
verhindern, ein wichtiger Meilenstein auf dem Weg zu einer passiven
Immunisierung beim Menschen. Die Forscher fanden bei der detaillierten
Charakterisierung der SARS-CoV-2-Antikörper aber auch heraus, dass es
sich bei vielen mAbs um sogenannte Keimbahn-nahe Antikörper handelt, die
sich in einem frühen Stadium der im Körper stattfindenden
Antikörper-Auslese („Reifung“) befinden. Diese Keimbahn-nahen Antikörper
haben prinzipiell die Fähigkeit, an mehr als ein spezifisches
Zielantigen zu binden („Off-Target-Bindung“). Die Arbeitsgruppe zeigte
tierexperimentell, dass manche dieser Keimbahn-nahen
SARS-CoV-2-Antikörper tatsächlich mit Eigenantigenen verschiedener
Organe reagieren, unter anderem mit Hirngewebe. Hier könnte also ein
Schlüssel für den Zusammenhang von COVID-19 und neurologischen Symptomen
sowie Begleit- und Folgeerkrankungen liegen.
„Als nächstes müssen wir klären, gegen welche körpereigenen Eiweiße sich
die SARS-CoV-2-Antikörper genau richten“, erklärt Studienautor Prof.
Dr. Harald Prüß. „Insbesondere in Bezug auf Neuro-COVID und das
Post-COVID-Syndrom, aber auch im Hinblick auf vermeidbare Komplikationen
zukünftiger Impfungen, ist eine mögliche Kreuzreaktivität mit
körpereigenen Strukturen von großer Bedeutung und muss nun weiter
untersucht werden – experimentell sowie an den Antikörpern aus dem
Plasma und Liquor von großen Patientenkohorten.“
Literatur
[1] Liotta E, Batra A, Clark JR et al. Frequent neurologic
manifestations and encephalopathy‐associated morbidity in Covid‐19
patients. Annals of Clinical and Translational Neurology. First
published: 05 October 2020. https://doi.org/10.1002/acn3.51210
[2] Kreye J, Reincke SM, Kornau HC et al. A therapeutic
non-self-reactive SARS-CoV-2 antibody protects from lung pathology in a
COVID-19 hamster model. Cell 2020; Open Access Published: September 23 https://www.cell.com/cell/fulltext/S0092-8674(20)31246-0
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Originalpublikation:
https://doi.org/10.1002/acn3.51210
https://doi.org/10.1016/j.cell.2020.09.049
Bitte beachten Sie:
Die Studie von Liotta et al. hatte neurologische Beschwerden bei
COVID-19-Patienten untersucht, die im Krankenhaus behandelt wurden.
Die erhobene Prävalenz vom 80% bezieht sich auf stationär behandelte Patienten!
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