Medizin am Abend Berlin - MaAB-Fazit: Hirn-OP: Genaue Prognosen für mögliche Sprachstörungen bei Patienten möglich
Wie hoch ist das Risiko für Patien:innen, bei einer Hirntumor-OP das Sprachvermögen zu verlieren?
Um das herauszufinden, analysieren Forschende des Klinikums rechts der Isar der Technischen Universität München (TUM) das Gehirn als Netzwerk.
Eine aktuelle Studie mit 60 Patienten bestätigt, dass bereits drei Viertel der Prognosen zutrafen.
Hirntumore sind vergleichsweise selten. Laut der Deutschen
Gesellschaft für Neurologie gibt es pro Jahr etwa fünf Fälle auf 100.000
Einwohner:innen. „Doch in den meisten Fällen ist eine Operation und
Entnahme des Tumors unumgänglich“, sagt Prof. Sandro Krieg, der davon
ausgeht, dass im Klinikum rechts der Isar der Technischen Universität
München (TUM) „annähernd täglich“ ein so genanntes Gliom entfernt wird.
Je nachdem, um welchen Tumor es sich handelt, entwickeln Krieg und seine
Kolleg:innen individuelle Behandlungs- und Operationsstrategien.
Wichtig dabei:
Das gesunde Gewebe soll möglichst erhalten bleiben und es sollen keine Strukturen geschädigt werden, was nachher weitere Einschränkungen verursachen kann.
Als „Aphasie“ bezeichnet man beispielsweise Störungen des Sprechens nach einer Operation.
„Wir wollen schon vor der Operation sehr genau wissen, wie groß dieses Risiko für die Patient:innen ist.“
Der Leitende Oberarzt in der Klinik für Neurochirurgie im Klinikum rechts der Isar beschäftigt sich schon seit mehr als zehn Jahren mit dem so genannten präoperativen Kartieren des Gehirns. „Wir wissen schon lange, wo sich grundlegend welche Funktionen des Gehirns etwa für Bewegung oder das Sprechen befinden. Doch haben wir erst vor etwa fünf Jahren damit begonnen, das Netzwerk des Gehirns zu analysieren, also herauszufinden, wie einzelne Regionen zusammenarbeiten, um beispielsweise das Sprechen zu ermöglichen. Klar ist:
Ein echtes Sprachzentrum gibt es nicht.
Es sind eher mehrere so genannte Hubs, also
Knoten eines großen Netzwerks, über die Sprache möglich wird.“
Hirntumor: Per Maschinellem Lernen Prognosen abgeben
Die Analyse der Netzwerkeigenschaften des Gehirns – auch
Connectom-Analyse genannt –, die das Team von Prof. Krieg seit etwa zwei
Jahren einsetzt, spielt eine Schlüsselrolle in der aktuellen Forschung.
„So quantifizieren wir die Verbindungen in einzelnen Hirnarealen“, sagt
Prof. Krieg. „Inzwischen haben wir damit begonnen, Hirnarealen exaktere
Funktionen zuzuweisen.“
Die TUM-Wissenschaftler Dr. med Haosu Zhang und Dr. med. Sebastian Ille
haben nun Schichtbilder vom Gehirn anatomisch zugeordnet, die für
sprachliche Fähigkeiten zuständig sind. Der Ablauf ist Folgender: „Mit
Hilfe einer speziellen Form der Magnetresonanztomographie, der
sogenannten Traktografie stellen wir die Netzwerke und Subnetzwerke von
Nervenbahnen im Gehirn dreidimensional dar“, erläutert Zhang die
Technologie.
Unterstützt wird diese Netzwerkanalyse von der navigierten
transkraniellen Magnetstimulation. Dabei hemmt ein gezielter
magnetischer Impuls Nervenzellen von Faserbahnen, die für das Sprechen
zuständig sind. Dies löst dann bei den Patient:innen eine vorübergehende
Sprachstörung aus, die in Videoanalysen erkannt werden kann. So können
die Wissenschaftler:innen präzise Regionen im Gehirn ausfindig machen,
die für das Sprechen zuständig sind. „Die so genannten
Connectom-Parameter aus der Traktografie und Informationen über die
Sprachfunktion des Patienten kombinieren wir miteinander“, erläutert
Zhang.
Das Besondere an Zhangs und Illes Algorithmus: Heraus kommen
„statistisch signifikante Parameter“ – Daten, die die Basis für das
Training eines Modells für maschinelles Lernen bieten und damit auch für
die Bestimmung der Sprachfunktion von einzelnen Patient:innen. So
komplex der Einsatz der verschiedenen Analysemethoden zu sein scheint –
das Besondere an der Methode ist ihre Einfachheit: Der gesamte
Analyseprozess kommt ohne komplexe Algorithmen und leistungsstarke
Rechner aus. „Die Daten, die wir einsetzen, ziehen wir aus
Routineuntersuchungen im Krankenhaus“, sagt Zhang.
Netzwerkanalyse: Genauigkeit in der Vorhersage von Sprachstörungen von 73 Prozent
In einer aktuellen Studie haben die Forschenden vom Klinikum rechts der
Isar bei 60 Patient:innen gezeigt, dass sich durch den Einsatz dieser
kombinierten Analyse recht zuverlässig (73 %) vorhersagen lässt, ob es
nach dem Eingriff zu Sprachstörungen kommt, zur so genannten
operationsbedingten Aphasie. „Es ist sehr wichtig, eine solche Prognose
abgeben zu können“, so Krieg. Ihn begeistert, dass er das Risiko mittels
„echter Netzwerkanalyse“ nun besser in Zahlen fassen und die Kartierung
des Gehirns mit konkreten Daten untermauern kann.
Hinzu kommt: Mit Hilfe von maschinellem Lernen sollen die Prognosen nun
noch besser werden. Doch dafür benötigen die Forschenden Daten von mehr
Patient:innen, um die Machine-Learning-Algorithmen anzulernen. „Es ist
der einzige Ansatz, der auf Basis von Big Data eine Aussage über das
Risiko eines Eingriffs machen kann“, sagt Prof. Krieg, der nun weitere
Patienten finden will, die an seinen Forschungen teilnehmen. Schon „ein
paar hundert“ Patienten sollten seiner Ansicht nach für eine sehr
präzise Vorhersage ausreichen.
Weitere Information
Prof. Sandro Krieg ist Principal Investigator des Munich Institute of
Robotics and Machine Intelligence (MIRMI). Mit dem MIRMI hat die TUM ein
integratives Forschungszentrum für Wissenschaft und Technologie
geschaffen, um innovative und nachhaltige Lösungen für zentrale
Herausforderungen unserer Zeit zu erarbeiten. Die Einrichtung verfügt
über führende Expertise auf zentralen Gebieten der Robotik, Perzeption
und Data Science. Im Rahmen des Forschungs- und Anwendungsschwerpunktes
“Zukunft der Gesundheit” wird in den Bereichen maschinelles Lernen in
der Medizin, Data Mining & Analyse, Virtual und Augmented Reality,
Sensorsysteme in der Robotik sowie sichere Mensch-Roboter Interaktion
(MRI), Soft-Robotik Design und Regelung geforscht. Weitere Informationen
finden Sie unter https://www.mirmi.tum.de/.
Professor Dr. med. Sandro Krieg
Leitender Oberarzt
Klinik für Neurochirurgie
Klinikum rechts der Isar der Technischen Universität München
sandro.krieg@tum.de
Andreas Schmitz Technische Universität München
Telefon: 089-289 181 98
E-Mail-Adresse: andreas.schmitz@tum.de
Originalpublikation:
„Preoperative function‐specific connectome analysis predicts surgery‐related aphasia after glioma resection“, Human Brain Mapping, 7-2022
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