Medizin am Abend Berlin Fazit: Wissen können, dürfen, wollen?
Die interdisziplinäre TA-SWISS-Studie «Wissen können, dürfen,
wollen? Genetische Untersuchungen während der Schwangerschaft» schätzt
die Chancen und Risiken von vorgeburtlichen genetischen Untersuchungen
ab, zeigt auf, wie sich die neuen Tests auf die Zukunft der pränatalen
Diagnostik und die medizinische Versorgung werdender Mütter auswirken
könnten, analysiert ethische, rechtliche und ökonomische Fragen und
formuliert Empfehlungen.
Sie legt damit die Grundlage für die notwendige
politische und gesellschaftliche Auseinandersetzung mit Fragen, die
kurz vor der Referendumsabstimmung zur Präimplantationsdiagnostik (PID)
von höchster Aktualität sind.
Seit den 1980er-Jahren werden schwangeren Frauen in der Schweiz
routinemässig Tests angeboten, damit sie herausfinden können, ob das
Ungeborene richtig liegt und sich gut entwickelt – und um allenfalls
schon vor der Geburt therapeutische Massnahmen oder andere Vorkehrungen
einzuleiten.
Obschon die gängigen Untersuchungen relativ zuverlässige
Ergebnisse liefern, ist ihre Aussagekraft nicht absolut.
Insbesondere,
wenn sie auf eine mögliche Krankheit des Embryos hindeuten, wird der
werdenden Mutter eine vertiefte Abklärung empfohlen.
Bis jetzt mussten
dazu Zellen aus dem Mutterkuchen oder Fruchtwasser entfernt werden.
Diese invasiven Eingriffe erhöhen allerdings das Risiko für eine
Fehlgeburt.
Seit Kurzem sind nun auch sogenannte
nicht-invasive Pränataltests (NIPT)
verfügbar, für die der schwangeren Frau einzig Blut entnommen werden
muss.
Daraus lassen sich
Fragmente des fötalen Erbmaterials gewinnen,
das sodann auf allfällige genetische Defekte untersucht wird. Diese
nicht-invasiven vorgeburtlichen Tests sind deutlich risikoärmer als die
Verfahren, bei denen der Plazenta Zellen entfernt oder Fruchtwasser
punktiert werden muss
. Zudem gestatten es die NIPT, insbesondere das
Down-Syndrom (Trisomie 21) im Fall eines erhöhten Ausgangsrisikos mit
einer Sicherheit von 99 Prozent vorherzusagen.
Dadurch werden Frauen
weniger oft mit falsch-positiven Testresultaten belastet, zudem sinkt
der Bedarf an invasiven Untersuchungen –
und damit auch die Zahl der
Fehlgeburten, die durch solche Untersuchungen verursacht werden.
Die NIPT kommen der Selbstbestimmung der schwangeren Frauen zugute, weil
sie sich für eine vorgeburtliche genetische Untersuchung entscheiden
können, ohne nachteilige Folgen für die Gesundheit des Fötus befürchten
zu müssen. Zudem stärken die Tests das elterliche Paar in seinem Recht
auf Wissen und liefern Entscheidungsgrundlagen,
wenn es um die Frage
geht, ob die Schwangerschaft fortgeführt oder abgebrochen werden soll.
Mit einer breiteren Anwendung der NIPT sind jedoch gleichzeitig auch
viele offene Fragen verbunden.
Welche Tests sind sinnvoll? Wie gehen die
Betroffenen mit den Informationen um und sind sie sich der Grenzen der
Aussagekraft der NIPT bewusst? Wie wird die Beratung sichergestellt?
Geraten Frauen zunehmend unter Druck, gesunde Kinder zu gebären, weil
risikoarme Tests zur Verfügung stehen, und wird das die
gesellschaftliche Akzeptanz von Behinderungen beeinflussen? Darf alles
getestet werden oder ist die Neugierde in Grenzen zu halten – und wenn
ja, warum, und wer legt diese Grenzen fest?
Die wichtigsten Empfehlungen der TA-SWISS-Studie:
Damit die Vorteile der vorgeburtlichen genetischen Untersuchungen zum
Tragen kommen,
ist eine fundierte und unabhängige Beratung ohne
Zeitdruck unerlässlich. Zudem darf sich dieses Beratungsgespräch nicht
auf medizinische Aspekte beschränken, sondern sollte nebst der
individuellen auch die gesellschaftliche und ethische Sachlage
berücksichtigen.
Medizinische Fachgesellschaften müssen Beratungsqualifikationen und
-standards festlegen und Guidelines entwickeln, die eine sinnvolle
Integration neuer Untersuchungsverfahren in die klinische
Patientenversorgung ermöglichen. Zu erwägen ist zudem die Schaffung
eines Ausbildungsgangs für Genetic Counselors, d.h. von Fachkräften, die
für die genetische Beratung qualifiziert sind, und die Schaffung
zentraler interdisziplinärer Anlaufstellen an universitären Zentren.
Die neuen Analysen müssen so i
n die etablierten Prozeduren der
Schwangerschaftsbegleitung eingeordnet werden, dass sich die
medizinische Versorgung werdender Mütter gegenüber heute nicht
verschlechtert. So bleibt
die Ultraschalluntersuchung unabdingbar, weil
sie nicht nur Hinweise auf eine mögliche Trisomie 21 gibt, sondern auch
Rückschlüsse auf vitale Eigenschaften des Embryos gestattet, die nicht
mit seiner genetischen Ausstattung zusammenhängen.
Routinisierungseffekte gilt es zu vermeiden.
Schwangere Frauen müssen
weiterhin ihr Recht auf Nichtwissen wahrnehmen dürfen. Es soll ihnen
überlassen bleiben, ob und wenn ja, welche Untersuchungen sie in
Anspruch nehmen wollen. Zudem sollte den Frauen bewusst sein, dass mit
den Tests
genetische Anomalien untersucht werden, die nicht therapierbar
sind.
Die vorgeburtlichen genetischen Analysen sind zuverlässig, ihre
Trefferquote liegt jedoch nicht bei hundert Prozent. Selbst bei der
Trisomie 21 kann es vereinzelt zu falsch-positiven Ergebnissen kommen;
andere genetische Anomalien führen wahrscheinlich gar zu höheren
Fehlerquoten.
Bei einem auffälligen Befund muss also der schwangeren
Frau nach wie vor ein invasiver Test zur Diagnosestellung empfohlen
werden.
Generell sollte der Anwendungsbereich der Untersuchungen gesetzlich
nicht eingeschränkt werden,
da nur die Frau einschätzen kann, welche
Informationen sie benötigt, um ihrer zukünftigen Verantwortung und Sorge
als Elternteil gerecht zu werden. Zudem könnten gesetzliche
Einschränkungen als diskriminierende Werturteile über die
Schutzwürdigkeit verschiedener menschlicher Lebensformen verstanden
werden. Allerdings sollten nur solche Informationen mittels Tests
erhoben werden, die den Zielen der reproduktiven Selbstbestimmung und
der zukünftigen elterlichen Verantwortung dienen.
Studie
Wissen können, dürfen, wollen? Genetische Untersuchungen während der Schwangerschaft.
Susanne Brauer, Jean-Daniel Strub et al., TA-SWISS, Zentrum für
Technologiefolgen-Abschätzung (Hrsg.). vdf Hochschulverlag an der ETH
Zürich, 2016. Kann im Open Access unter www.vdf.ethz.ch auch kostenlos
als e-Book heruntergeladen werden.
Unterstützt wurde die Studie von der Kommission für Technologie und Innovation
(KTI), der Nationalen Ethikkommission im Bereich der Humanmedizin (NEK)
und der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW).
Kurzfassung der Studie
Wenn die Zukunft in den Genen liegt. Nicht-invasive pränatale Tests und ihre Folgen.
TA-SWISS (Hrsg.), Bern 2016.
Die Kurzfassung und weitere Informationen zu Projekt und Studie auf der Webseite von TA-SWISS (siehe unten):
http://www.ta-swiss.ch/projekte/biotechnologie-und-medizin/vorgeburtliche-gendia...
Medizin am Abend Berlin DirektKontakt
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Christine D'Anna-Huber
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