Medizin am Abend Berlin Fazit: Und vor welchen Aufgaben steht die Altersmedizin hierzulande?
Der Geriater ist der Spezialist für die Behandlung sehr alter
Menschen. Kinder gehen zum Kinderarzt – ganz klar! Ihr Organismus
funktioniert anders als der von Erwachsenen. Und alte Menschen? Die
sollten im besten Falle zum Altersmediziner, also zum Geriater. Der
kennt sich aus.
Denn auch der Organismus eines 90-Jährigen funktioniert
anders, als der eines 30-Jährigen.
https://www.bong.tv/tv-programm/sendung/3013156-boses-blut
Vor allem: Der typische Geriater wird immer mehr zum Netzwerker
zwischen den Disziplinen. Denn je nach Leiden oder Symptom, wird der
alte Patient in unterschiedlichen medizinischen Bereichen behandelt, von
vielen Ärzten und Therapeuten,
die im Zweifelsfalle nichts voneinander
wissen und sich nicht austauschen.
Eigentlich ist in jedem Fall aber das
Wissen der Altersmediziner vonnöten, um hochbetagten Patienten eine
ausgezeichnete Versorgung zu gewährleisten. Gerade deshalb werden
Geriater in der Medizin der Zukunft eine strategisch wichtige Rolle
spielen. Bei ihnen laufen alle Fäden zusammen.
Die Zukunft der Medizin steht deshalb vor großen Herausforderungen.
Da
wäre die wachsende Komplexität von diagnostischen und therapeutischen
Prozessen, die Zunahme dementieller Syndrome, die Verknappung von
Ressourcen. Aber auch die familiäre Unterstützung wird weniger. Vor
genau diesem Kontext sucht die Medizin des Alterns für ältere Menschen
individuelle Lösungen. Anlässlich des vom 3. bis 5. September in
Frankfurt am Main stattfindenden größten deutschsprachigen
Altersmedizinkongresses, möchte die Deutsche Gesellschaft für Geriatrie
(DGG) mit einigen Antworten auf wichtige Fragen von Angehörigen und
Patienten verdeutlichen, wie die Geriatrie zur Optimierung und
Zukunftssicherung der Versorgung sehr alter Patienten beitragen kann.
Häufig gestellte Fragen an Geriater:
Welche Patienten behandeln Geriater?
Bei einem Teil akut erkrankter alter Patienten treten spezifische
Krankheitserscheinungen in den Hintergrund.
Das klinische Bild wird
aufgrund alterstypischer Multimorbidität und Vulnerabilität durch
funktionelle Defizite und/oder durch Störungen primär nicht betroffener
Organsysteme dominiert.
- Ein typisches Beispiel wäre ein hochbetagter,
kognitiv eingeschränkter Patient mit einer höhergradigen
Herzinsuffizienz, Niereninsuffizienz Stadium 4-5 und einer schweren
Polyarthrose, der in Folge einer Dekompensation gestürzt war oder
immobil wurde.
- Durch Verlust seiner Alltagskompetenz hat er Hilfebedarf
bei den Aktivitäten des täglichen Lebens wie Nahrungsaufnahme, An- und
Auskleiden, Kontinenz, Körperhygiene, etc.
Weitere Komplikationen sind
zu befürchten:
- Hospitalinfektionen, erneute Stürze, Delir,
Mangelernährung etc.
Die funktionellen Einbußen können bereits zu Beginn
einer Erkrankung oder aber im Verlauf die diagnostischen und
therapeutischen Bemühungen bestimmen.
Was sind Ziele und Besonderheiten geriatrischer Arbeit?
Es ist vorrangiges Ziel der Geriatrie, diese „geriatrischen Patienten“
zu identifizieren, dem funktionellen Abbau und der Beeinträchtigung des
gesamten Organismus entgegenzuwirken und das bisherige Niveau an
Autonomie zu erhalten oder wiederzustellen. Wegen der komplexen
Situation dieser Patienten nutzt der Geriater zusätzlich zu den
klassischen ärztlichen Untersuchungsmethoden das
geriatrische
Assessment, um alterstypische Multimorbidität, funktionelle Defizite,
aber auch mentale und psychische Probleme sowie das soziale Umfeld des
Patienten abzubilden, die multiprofessionelle Therapie im
therapeutischen Team zu planen, zu leiten und die Ergebnisse der
Behandlung zu überprüfen. Für diese Arbeit ist die kontinuierliche
Vorhaltung geriatriespezifischer Ressourcen hinsichtlich Ausstattung und
Personal sowie eine auf den geriatrischen Patienten fokussierte
Organisation in der Abteilung oder Praxis notwendig.
Worin besteht der theoretische Hintergrund geriatrischer Arbeit?
Wegen der altersbedingt eingeschränkten Organreserven reagieren betagte
Patienten auf unterschiedliche Auslöser häufig mit ähnlichen
Reaktionsmustern.
- Diese werden als geriatrische Syndrome bezeichnet wie
Sturz und Immobilität, Inkontinenz, Mangelernährung, Sarkopenie,
Frailty/Gebrechlichkeit, Exsikkose, chronischer Schmerz, Delir u. a.
- Aufgrund ihrer multikausalen Verursachung unterscheiden sich diese vom
klassischen Syndrom-begriff. Eine Behandlung muss sowohl die Auslöser
aber auch die Reaktionen der verschiedenen Organsysteme im Kontext der
Multimorbidität berücksichtigen.
- Dazu bedarf es der Priorisierung einer
Multimedikation ergänzt durch nicht-medikamentöse Therapieformen wie
Krankengymnastik, Ergotherapie, Sprach- und Schlucktherapie sowie
soziale Maßnahmen.
Was muss ein Geriater können?
Neben dem
multidisziplinären geriatrischen Assessment, der Kenntnis
geriatrischer Syndrome sowie der Planung und Leitung des
multiprofessionellen Teams, muss der Geriater vor allem gute
differentialdiagnostische und pharmakologische Kenntnisse vorweisen.
Unter Berücksichtigung der häufigsten chronischen Alterskrankheiten wie:
- Hypertonie, Herzinsuffizienz, Vorhofflimmern, koronare Herzerkrankung,
Diabetes mellitus , chronische Atemwegserkrankungen,
Durchblutungsstörungen, Niereninsuffizienz, Mangelernährung, Anämie,
Arthrose, Osteoporose, Demenz, Depression, chronische Schmerzen u. a.
Hier wird deutlich, dass der Geriater über umfassende Kenntnisse und
Fertigkeiten in der Inneren Medizin, ergänzt durch Aspekte anderer
Fachgebiete verfügen muss.
Hierzu gehören beispielsweise die Beurteilung
von
EKG, Langzeit-EKG und –Blutdruckmessung, Spirometrie, Endoskopie
inkl. PEG-Anlage, Sonographie inkl. Duplexdiagnostik, Echokardiographie,
Doppler-Druck-Messung, Schluckdiagnostik, Beurteilung von
Standard-Röntgenuntersuchungen u.a. Eine qualifizierte Geriatrie ist
zudem ohne Kenntnisse
der internistischen Intensivmedizin nicht machbar.
Spezielle Techniken wie EEG, ENG, CT, Herzkatheter und andere sind
wichtige Ergänzungen in der Hand des konsiliarisch hinzugezogenen
Organspezialisten.
Womit beschäftigt sich geriatrische Forschung?
Die Kompression der Morbidität mit Erhalt der Autonomie bis ins hohe
Alter stellt das übergeordnete Ziel geriatrischer Forschung dar.
Grundlagen-orientierte Schwerpunkte (Alternsforschung) umfassen
beispielsweise die Bereiche Sarkopenie, Frailty, Immunologie und
körperlicher Aktivität/Ambient Assisted Living.
Neben der Präzisierung
des geriatrischen Assessments erlangen aktuell vor allem Themen im
Bereich der
Mangelernährung, des körperlichen Trainings auch von
Demenzpatienten, der Sturzprävention und der Polypharmazie
(Interaktionen, Einschätzung neuer Medikamente etc.) klinisch Relevanz.
Die wachsende Qualität kommt auch in einer
Aufwertung der
Publikationsorgane zum Ausdruck (steigende Impact Faktoren/
Reichweiten).
Wesentliche Elemente geriatrischer Arbeit konnten zudem
auf hohem Evidenzlevel bestätigt werden. Prominentes Beispiel ist der
positive Effekt einer Assessement-basierten geriatrischen Behandlung auf
Funktion und Überleben der Patienten im Vergleich zu einer
herkömmlichen Behandlung (Cochrane Database Syst Rev. 2011 Jul
6;(7):CD006211).
Wo werden Geriater benötigt?
Krankheitsspezifische und funktionsorientierte Maßnahmen müssen sich bei
der Behandlung alter, multimorbider Patienten sinnvoll ergänzen.
Deshalb ist es zweckmäßig, dass Geriater auf unterschiedlichen Ebenen
der medizinischen Versorgung in die Entscheidungsprozesse einbezogen
werden.
Hochbetagte Patienten werden selbstverständlich nach den
krankheitsspezifischen Leitlinien in den jeweiligen (Organ-)Abteilungen
versorgt.
Wenn jedoch Funktionsdefizite oder alterstypische
Multimorbidität das klinische Bild bestimmen, können gleich zu Beginn
oder im Verlauf einer akuten Erkrankung geriatrische Maßnahmen wie
Assessment, multiprofessionelle Therapie und Rehabilitation in den
Vordergrund rücken.
Jeder Mediziner, der alte Patienten behandelt,
sollte das Primat einer funktionserhaltenden Behandlung zum richtigen
Zeitpunkt erkennen. Der Geriater muss gewährleisten,
seine Therapie
bedarfsweise zu Gunsten einer gezielten Intervention (etwa einer
sofortigen PTA, einer Hüft-TEP, einer Krisenintervention bei schwerer
Psychose, einer Lyse bei cerebraler Ischämie etc.) zurückzustellen oder
zu unterbrechen.
Dies stellt auch im aktuellen DRG-System für alle
Beteiligten eine optimale Versorgungsform dar, da die Übernahme der
Patienten zur geriatrischen Komplexbehandlung die Verweildauer in den
verlegenden Abteilungen verkürzt.
Zudem können viele Hochbetagte durch
Erhalt ihrer vorbestehenden Alltagskompetenz ins gewohnte Umfeld
entlassen werden.
Für die ambulante Medizin gilt, dass alte Patienten natürlich von Ihren
Haus- und Fachärzten behandelt werden. Erst wenn umfassende Diagnostik
und Therapie zur Aufrechterhaltung von Teilhabe und Autonomie notwendig
werden oder
komplexe Fragestellungen aus Multimorbidität und
Polypharmazie resultieren, sollten Geriater wie andere spezialisierte
Fachärzte auf Überweisung tätig werden.
Wie will sich die Geriatrie im Fächerkanon einordnen?
In den meisten europäischen Ländern ist Geriatrie ein eigenständiges
Fach oder ein Schwerpunkt in der Inneren Medizin.
- In Deutschland ist sie
als Schwerpunkt in der Inneren Medizin bereits in 3 Bundesländern
(Berlin, Brandenburg, Sachsen-Anhalt) anerkannt.
Da die Behandlung der
häufigsten alters-assoziierten Erkrankungen Kenntnisse und Fertigkeiten
der internistischen Basisweiterbildung voraussetzen und die meisten
geriatrischen Kliniken (vor allem im Akutbereich) internistischen
Abteilungen zugeordnet sind, ist ein Facharzt nur als Schwerpunkt in der
Inneren Medizin (neben Gastroenterologie, Rheumatologie, Kardiologie
etc.) sinnvoll.
Für Fachbereiche mit hohem Anteil betagter Patienten wie
der Neurologie, der Psychiatrie oder der Allgemeinmedizin, wird wie
bisher eine fachbezogene klinische Zusatzweiterbildung in Geriatrie
erhalten bleiben.
Kurse zur Geriatrischen Grundversorgung sollten für
alle Ärzte insbesondere in der ambulanten Versorgung angeboten werden.
Welche Rolle spielt die Geriatrie in der Krankenversorgung bisher und in Zukunft?
Geriatrie verfügt nach der Kardiologie mittlerweile über die zweitgrößte
Anzahl von spezialisierten internistischen Betten in deutschen
Krankenhäusern.
Die Geriater sind in die Bereitschaftsdienste der
jeweiligen Kliniken und, wenn vorhanden auch in die internistische
Notaufnahme integriert.
- Die frühzeitige und kontinuierliche Einbindung
geriatrischer Kompetenz in die Behandlungsabläufe wird die Qualität der
Versorgung hochbetagter, multimorbider Patienten steigern.
Es ist nicht
Ziel der Etablierung des Fachgebietes Geriatrie, alle alten Patienten zu
behandeln oder Spezialisierungen in den jeweiligen Organfächern für den
alten Menschen zu kopieren.
Das Papier wurde von folgenden Mitgliedern der Deutschen Gesellschaft
für Geriatrie (DGG) erarbeitet und konsentiert: M. Denkinger (Ulm), V.
Goede (Köln), W. Hofmann (Neumünster), A. Kwetkat (Jena), M. Meisel
(Dessau), R. Püllen (Frankfurt), Ralf-Joachim Schulz (Köln), U. Thiem
(Herne).
Medizin am Abend Berlin DirektKontakt
Nina Meckel
Deutsche Gesellschaft für Geriatrie (DGG)
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