Medizin am Abend Berlin Fazit: Reform der Heil- und Hilfmittelversorgung
Die von der Bundesregierung geplante Reform der Heil- und
Hilfsmittelversorgung wird von Gesundheitsexperten sowie den betroffenen
Branchenvertretern sehr befürwortet. Einzelne Regelungen in dem
Gesetzentwurf (18/10186)
stoßen jedoch auf Bedenken,
wie sich anlässlich der öffentlichen
Anhörung des Gesundheitsausschusses zu der Vorlage am Mittwoch in Berlin
zeigte und auch aus den schriftlichen Stellungnahmen der
Sachverständigen hervorgeht.
Medizin am Abend Berlin ZusatzFachLink: Gesetzentwurf
So fürchten etwa die Hersteller und
Anbieter von medizinischen Hilfsmitteln, dass sie bei der Vergabe von
Aufträgen künftig benachteiligt werden könnten. A
uch die
Qualitätsoffensive wird in der praktischen Anwendung kritisch gesehen.
Ferner sorgen sich Experten wegen der zusätzlich geforderten Angaben um
den Datenschutz und die Bürokratielasten.
- Während Heilmittel wie
Krankengymnastik oder Massagen zur Gesundung beitragen, dienen
Hilfsmittel wie Rollstühle, Prothesen oder Brillen dazu, Defizite
auszugleichen. ,
Die Reform soll mehr Qualität und Transparenz in
diesen Markt bringen. Mit dem Gesetz zur Stärkung der Heil- und
Hilfsmittelversorgung (HHVG)
soll der Spitzenverband der gesetzlichen
Krankenkassen (GKV-Spitzenverband) dazu verpflichtet werden, bis Ende
2018 das Hilfsmittelverzeichnis zu aktualisieren.
Zudem soll der
Spitzenverband bis Ende 2017 eine Systematik schaffen, um das
Verzeichnis auch künftig aktuell zu halten.
- Die Krankenkassen
sollen bei ihren Vergabeentscheidungen künftig neben dem Preis auch
qualitative Anforderungen an die Hilfsmittel berücksichtigen. Zudem
werden die Krankenkassen auch bei Ausschreibungen dazu verpflichtet, den
Patienten eine Wahlmöglichkeit zwischen verschiedenen mehrkostenfreien
Hilfsmitteln einzuräumen.
- Um mehr Transparenz zu schaffen, müssen
die Anbieter die Versicherten künftig beraten, welche Hilfsmittel und
zusätzlichen Leistungen für sie geeignet sind und von den Krankenkassen
als Regelleistung bezahlt werden. Die Anbieter werden verpflichtet, die
Höhe der Mehrkosten anzugeben.
Die Krankenkassen sollen über
ihre Hilfsmittel-Vertragspartner und die Inhalte der Verträge
informieren.
So können Versicherte die Angebote der Krankenkassen im
Bereich der Hilfsmittel vergleichen.
Heilmittelerbringer, also
Physiotherapeuten, Ergotherapeuten, Logopäden (Sprachtherapie) und
Podologen (Fußheilkunde), sollen künftig über sogenannte
Blankoverordnungen stärker in die Verantwortung genommen werden.
Demnach
wird das Heilmittel weiter von einem Arzt verordnet, der
Heilmittelerbringer bestimmt aber Auswahl, Dauer und Abfolge der
Therapie.
In dem Gesetzentwurf umstritten ist die sogenannte
40/60-Regelung, die bewirken soll, dass die Krankenkassen den Zuschlag
für ein HILFSMITTEL nicht nur aufgrund des guten Preises erteilen,
sondern auch die Qualität maßgeblich ist.
Im Gesetz heißt es dazu,
soweit die qualitativen Anforderungen nicht "erschöpfend" in der
Leistungsbeschreibung festgelegt seien, müsse bei der Gewichtung der
Zuschlagskriterien der Qualitätsaspekt zu mindestens 40 Prozent
berücksichtigt werden.
Der Bundesverband Medizintechnologie
(BVMed) hält das für problematisch und meint, wie auch die
Herstellervereinigung eurocom, damit liefe die eigentliche Absicht ins
Leere.
Schon heute rechtfertigten die Krankenkassen die Wahl des Preises
als einziges Zuschlagskriterium mit dem Argument, die Qualität sei
abschließend im Rahmen- und Hilfsmittelvertrag geregelt, gibt BVMed zu
bedenken
. Die 40/60-Regelung werde somit voraussichtlich auch künftig,
gerade bei Fortschreibung des Hilfsmittelverzeichnisses, nicht
angewendet. Das alleinige Zuschlagskriterium bliebe dann der günstigste
Preis.
Nach Ansicht des GKV-Spitzenverbandes ist die
Qualitätsoffensive in der Intention sehr zu begrüßen. Jedoch lasse die
Ausgestaltung der neuen Regelung "entscheidende Fragen unbeantwortet"
und werde eher zu neuen Rechtsunsicherheiten als zu einer
Qualitätsverbesserung führen.
Statt der Gewichtung von
Zuschlagskriterien sollte den Krankenkassen generell ermöglicht werden,
qualitativ höherwertige Leistungen anbieten zu können. Dazu seien
größere vertragliche Gestaltungsspielräume nötig.
In dem
Zusammenhang bemerkte der Bundesinnungsverband für Orthopädie-Technik
(BIV-OT), angesichts der geplanten Regelungen zur Daten- und
Informationsübermittlung stelle sich die Frage, wer bei der Verarbeitung
und Weitergabe von medizinischen und ökonomischen Messdaten welche
Rechte besitze.
Die Meldung privater Aufzahlungen der Versicherten
verstoße gegen das Verfassungsrecht und das Bundesdatenschutzgesetz. Im
Bereich der individuellen Gesundheitsleistungen (IGeL) würden von den
Krankenkassen keine Daten erhoben.
Es gebe keinen Grund, die Höhe des
privaten Aufzahlungsbetrags von der GKV zu erheben und zu nutzen. Auch
die Datenschutzbeauftragte der Bundesregierung sieht diese Regelung
kritisch und rät zu einem anderen Verfahren.
Der Deutsche
Industrieverband für optische, medizinische und mechatronische
Technologien forderte Mitentscheidungsrechte der Hersteller bei der
Verfahrensordnung zur Aufnahme von Hilfsmitteln und zur Fortschreibung
des Hilfsmittelverzeichnisses. So sollte der GKV-Spitzenverband dazu
verpflichtet werden, ein Expertengremium mit medizinischen
Fachgesellschaften und Verbänden der Hersteller und Leistungserbringer
zu installieren.
Ein Sachverständiger aus der Praxis erinnerte in
der Anhörung an den Skandal mit minderwertigen Inkontinenzprodukten
(Windeln) und hob die Bedeutung verlässlicher Qualitätsstandards auch in
diesem Bereich hervor.
- Ein Sprecher des Zentralverbandes
Orthopädieschuhtechnik (ZVOS) gab in der Expertenrunde zu Bedenken, dass
etwa bei der Anpassung orthopädischer Einlagen für Diabetiker die
Dienstleistung entscheidend sei. Dies müsse bei der Ausschreibung
individuell gefertigter Hilfsmittel berücksichtigt werden.
Der
Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband (DBSV) appellierte in seiner
Stellungnahme an den Gesetzgeber,
die "schwerwiegende Versorgungslücke"
in Fällen von gravierender Fehlsichtigkeit mit der Novelle endlich zu
schließen.
Die Betroffenen seien ohne Brille oder Kontaktlinsen nahezu
blind, bekämen aber die nötige Hilfe nicht, weil sie mit
"hinzugedachten" Sehhilfen mehr als 30 Prozent sehen könnten.
Wer sich
die teuren Sehhilfen nicht leisten könne, sei in seiner Teilhabe am
gesellschaftlichen Leben massiv beeinträchtigt und könne kaum ein
eigenständiges Leben führen. Betroffen seien zum
Beispiel Patienten mit
pathologischer Myopie oder Aphakie (Linsenlosigkeit).
Was die
HEILMITTEL angeht, plädierten der GKV-Spitzenverband wie auch einzelne
Krankenkassen dafür, die Bewertung der bereits laufenden Modellprojekte
zur Blankoverordnung abzuwarten und erst dann über das weitere Vorgehen
zu entscheiden.
Der Spitzenverband der Heilmittelverbände (SHV) machte
sich dafür stark, gleich den Direktzugang von Versicherten zu
Heilmittelerbringern zu ermöglichen und dies zu erproben.
Der
Direktzugang wäre effektiv und mit Einsparungen verbunden. Eine
Sprecherin des Deutschen Bundesverbandes für Logopädie (dbl) sagte in
der Anhörung,
der Direktzugang werde sofort benötigt, die
Blankoverordnung sei nicht interessant.
Die Kassenärztliche
Bundesvereinigung (KBV) nannte die Intention des Gesetzgebers
nachvollziehbar. Die Regelung könnte auch zu einer sinnvollen Entlastung
der Ärzte führen. Allerdings müssten die Mediziner zwingend in die
Modellvorhaben eingebunden werden,
weil sie die Gesamtverantwortung
trügen und damit die Möglichkeit haben müssten, kontraindizierte
Heilmittel auszuschließen oder eine Heilmitteltherapie zu beenden. Zudem
müsse es klare Regelungen zur Rückmeldung der Heilmittelerbringer an
den Arzt geben.
- Heftig umstritten ist die in den Jahren 2017 bis
2019 vorgesehene Aufhebung des Grundsatzes der Beitragssatzstabilität,
die mehr Spielraum bei der Vereinbarung der Heilmittelpreise ermöglichen
soll.
- Damit werde eine Preisspirale in Gang gesetzt, die bei den
Beitragszahlern zu weiteren finanziellen Belastungen führen werde,
warnte der GKV-Spitzenverband.
Im Gesetz ist dazu vorgesehen, in
den drei Jahren die Anbindung der Heilmittelpreise an die Grundlohnsumme
abzukoppeln.
Die Grundlohnsumme setzt sich zusammen aus den
beitragspflichtigen Einnahmen der Versicherten.
Die Entwicklung der
Grundlohnsumme ist maßgeblich für die Vergütung der Leistungen in der
GKV, denn laut Gesetz müssen die Vergütungen so ausfallen, dass keine
Beitragssatzerhöhungen notwendig werden.
Auch der Sozialverband
Deutschland (SoVD) erklärte, diese Regelung werde nicht zu
Leistungsverbesserungen führen, sondern lediglich die
Verhandlungsposition der Heilmittelerbringer stärken.
Die
Interessengemeinschaft der selbstständigen Sprachtherapeuten hält
hingegen die jetzigen Sockelbeträge für völlig unzureichend.
Die freien
Praxen seien nicht annähernd in der Lage, ihren Angestellten Tariflöhne
zu zahlen. Zwischen den Gehältern im stationären und ambulanten Bereich
klaffe eine Lücke von bis zu 40 Prozent. Nach Ansicht des SHV sollte die
Grundlohnsummenanbindung für immer wegfallen.
In der Anhörung mitberaten wurden zwei Anträge der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen (18/8399; 18/10247)
zur Heilmittelversorgung sowie mehrere Änderungsanträge der
Koalitionsfraktionen von Union und SPD, die nicht unmittelbar mit der
Heil- und Hilfsmittelreform zusammenhängen.
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