Medizin am Abend Berlin - MaAB-Fazit: Mindestens 2,1 Millionen Beschäftigten in Deutschland wird paritätische Mitbestimmung vorenthalten
Zum 1. Mai: Studie zu Arbeitnehmerrechten und neues Video
Mindestens 2,1 Millionen Beschäftigten in Deutschland wird paritätische Mitbestimmung vorenthalten – starker Anstieg seit 2015
- Unternehmen, in denen die Beschäftigten über Betriebsräte und
Vertreterinnen und Vertreter im Aufsichtsrat mitbestimmen, bieten
bessere Arbeitsbedingungen.
Gleichzeitig verfolgen mitbestimmte
Unternehmen häufiger ein forschungs- und qualitätsorientiertes
Geschäftsmodell und weisen im Mittel bei zentralen
betriebswirtschaftlichen Kennzahlen bessere Ergebnisse auf.
Das gilt ganz besonders in Phasen von Krisen und
Transformationsdruck, wie Forscher am Beispiel der letzten Finanz- und
Wirtschaftskrise ermittelt haben:
Sowohl mit Blick auf die operative
Rendite, die Bewertung am Kapitalmarkt, die Beschäftigungsentwicklung
und bei den Investitionen schnitten im Aufsichtsrat mitbestimmte
Unternehmen ab 2008 deutlich besser ab.
Diese positiven Effekte, die
auch aktuell für die Bewältigung der Corona-Krise bedeutsam sind,
belegen zahlreiche wissenschaftliche Untersuchungen, die ein umfassender
neuer Report der Hans-Böckler-Stiftung zum Stand der Mitbestimmung
erschließt.
Die veröffentlichte Studie zeigt aber auch:
Die eigentlich durch
die deutschen Mitbestimmungsgesetze garantierte demokratische
Beteiligung von Beschäftigten wird immer häufiger unterlaufen.
Arbeitgeber nutzen rechtliche Lücken, über die Mitbestimmung umgangen
wird, etliche ignorieren sogar geltendes Recht. Im Ergebnis besaßen
zuletzt von rund 950 Unternehmen, die in Deutschland mehr als 2000
Beschäftigte haben und keinem „Tendenzschutz
“ unterliegen, nur rund 650
den nach den Mitbestimmungsgesetzen ab dieser Größe vorgesehenen
paritätisch besetzten Aufsichtsrat.
Mitbestimmungsvermeidung hat
wesentlich dazu beigetragen, dass heute etwa 120 Unternehmen weniger
paritätisch mitbestimmt sind als zum Höchststand 2002. In Deutschland
sind mindestens 2,1 Millionen Beschäftigte in insgesamt 307 Unternehmen,
Stand Februar 2020, durch legale juristische Kniffe (bei 194
Unternehmen) oder rechtswidrige Ignorierung der Gesetze (bei 113
Unternehmen) von der paritätischen Mitbestimmung ausgeschlossen (siehe
auch Grafik und Tabelle 1 in der pdf-Version dieser PM; Link unten). Der
deutsche und der europäische Gesetzgeber müssen dringend handeln, damit
der Standortvorteil Mitbestimmung erhalten bleibt, mahnen die Experten
der Stiftung und skizzieren, wo gesetzlich nachgebessert werden muss.
Allein mindestens 1,4 Millionen inländische Beschäftigte in 194
Großunternehmen werden durch legale juristische Konstruktionen um die
paritätische Mitwirkung im Aufsichtsrat gebracht, berichtet Dr.
Sebastian Sick. Der Unternehmensrechtler des Instituts für Mitbestimmung
und Unternehmensführung (I.M.U.) der Hans-Böckler-Stiftung stützt sich
auf eine I.M.U.-geförderte Erhebung der aktuellsten verfügbaren Daten
durch das Institut für Rechtstatsachenforschung an der Universität Jena
unter Leitung von Prof. Dr. Walter Bayer. Die Zahl der durch legale
juristische Tricks ausgeschlossenen Beschäftigten ist danach seit 2015
deutlich gestiegen.
Weitere knapp 660.000 inländische Beschäftigte in 113 großen Unternehmen
können die gesetzlich vorgesehenen paritätischen Mitbestimmungsrechte
nicht wahrnehmen, weil ihre Arbeitgeber geltendes Recht ignorieren, so
Sick. Das Problem: Die Gesetze sehen für Unternehmen, die rechtswidrig
keinen mitbestimmten Aufsichtsrat einrichten, keine spürbaren Sanktionen
vor.
Nur eingeschränkte Mitbestimmungsrechte bieten schließlich 24
Großunternehmen mit gut 370.000 Beschäftigten im Inland, die als
Kommanditgesellschaft auf Aktien (KGaA) firmieren. Sie haben zwar einen
paritätischen Aufsichtsrat. Der besitzt allerdings nur rudimentäre
Kompetenzen.
– „Das Mitbestimmungsrecht ist löchrig wie ein Schweizer Käse“ –
„Das Mitbestimmungsrecht ist mittlerweile löchrig wie ein Schweizer
Käse. Diese Löcher muss der Gesetzgeber dringend schließen“, konstatiert
Unternehmensrechtler Sick. „Sonst droht die nicht umkehrbare Erosion
der Mitbestimmung.“ Dabei sei auch die europäische Politik in der
Pflicht, betont der Experte. Denn vor allem „durch europäisches Recht
sind neue Schlupflöcher entstanden“. Von den genannten 194
Großunternehmen mit formal legaler „Mitbestimmungsvermeidung“ nutzen
nach Sicks Analyse 150 eine Rechtskonstruktion mit „europäischem“ Bezug.
„Die Mitbestimmung gehört zur DNA der sozialen Marktwirtschaft, gerade
in der Wissensökonomie des 21. Jahrhunderts. Sie bringt Demokratie,
unterschiedliche Kompetenzen und wirtschaftlichen Erfolg zusammen. Aber
dieser Standortvorteil wird verspielt, wenn Mitbestimmungsrechte nicht
endlich besser geschützt werden. Die Uhr läuft. Die Entscheidungsträger
in Berlin und Brüssel, die schon oft besseren Schutz versprochen haben,
müssen endlich handeln und konkrete Gesetzesinitiativen starten“, sagt
Michael Guggemos, Geschäftsführer der Hans-Böckler-Stiftung und Mitglied
der Regierungskommission Deutscher Corporate Governance Kodex. „Es wäre
ein erstes Zeichen gewesen, wenn die Mitbestimmung als essenzieller
Bestandteil guter Unternehmensführung in den Corporate Governance Kodex
aufgenommen worden wäre. Es ist absolut unverständlich, dass die
Kommission diesen Vorschlag der Arbeitnehmerseite abgelehnt hat.“
– Verbreitete Konstruktionen: Auslandsgesellschaften & Co. KG, Einfrier-SEs, Familienstiftungen –
Ein verbreitetes Vehikel, um Mitbestimmungsrechte über eine juristische
Lücke legal zu unterlaufen, sind nach der I.M.U.-Analyse
gesellschaftsrechtliche Konstruktionen mit ausländischen Rechtsformen
wie beispielsweise die B.V. & Co. KG oder die Ltd. & Co. KG.
Hintergrund: Die deutschen Mitbestimmungsgesetze stammen aus einer Zeit,
als die weitgehende europäische Niederlassungsfreiheit noch nicht
absehbar war. Deshalb beziehen sie sich in ihrem Wortlaut auf
Unternehmen in deutscher Rechtsform. Kombinieren Firmen deutsche und
ausländische Rechtsformen, fallen sie nach herrschender juristischer
Meinung nicht mehr unter das Mitbestimmungsgesetz. Das ist nach
europäischem Recht auch Firmen möglich, die ihren Sitz und den
Schwerpunkt ihrer Geschäfte in Deutschland haben. Im Februar 2020
firmierten 62 Unternehmen mit jeweils mehr als 2000 inländischen
Beschäftigten in einer hybriden Rechtsform, ein Zuwachs um 9 Prozent
gegenüber 2015. Mindestens rund 432.000 dort Beschäftigten blieb dadurch
die paritätische Mitbestimmung im Aufsichtsrat versagt. Als Beispiele
nennt der Report etwa den Entsorger ALBA, die Meyer Werft oder den
Fleischfabrikanten Tönnies.
Ein weiteres großes Schlupfloch, durch das Mitbestimmung ausgehebelt
werden kann, stellen lückenhafte Vorschriften zur Europäischen
Aktiengesellschaft (SE) dar. Es wird nach Analyse der Forscher oft von
jungen, wachsenden Unternehmen genutzt.
Immer wieder würden Firmen kurz
vor Erreichen der gesetzlichen Schwellenwerte von 500 inländischen
Mitarbeitern für eine Drittelbeteiligung oder 2.000 für die paritätische
Mitbestimmung zur SE umgewandelt. Da dabei das Vorher-Nachher-Prinzip
gilt, der Status quo ohne mitbestimmten Aufsichtsrat also eingefroren
wird, können sich Firmen auf diese Weise unwiderruflich aus dem System
der Mitbestimmung verabschieden – auch wenn sie später deutlich mehr
Beschäftigte haben. Das I.M.U. geht von 58 Unternehmen mit mindestens
236.000 Beschäftigten in Deutschland aus, die als SEs mit mehr als 2000
Beschäftigten im Inland nicht paritätisch mitbestimmt sind. Dazu zählt
der Report etwa den
Gesundheitskonzern Schön Klinik, die Pro Sieben Sat1
Media, das Wohnungsunternehmen Vonovia oder den Versandhändler Zalando.
Insgesamt verfüge nur jede fünfte deutsche SE mit mehr als 2000
Beschäftigten über einen paritätisch besetzten Aufsichtsrat – fast
ausschließlich sind das etablierte Großunternehmen, die schon vor der
Umwandlung mitbestimmt waren. Eine Variante ist die Rechtsform der SE
& Co. KG. Unter dieser Konstruktion firmiert laut Studie unter
anderem
die Dachser Group. Insgesamt zählen die Forscher 24 SE & Co.
KGs mit rund 138.000 Beschäftigten. Diese Gruppe ist in den letzten
Jahren sehr schnell gewachsen. Zusammengenommen haben also 82 SEs mit
jeweils mehr als 2000 inländischen Beschäftigten keinen paritätisch
mitbestimmten Aufsichtsrat. „Die SE ist deshalb ein Kernproblem für die
Partizipation im Aufsichtsrat“, schreibt Sick.
Weitere 50 Unternehmen mit zusammen mindestens 550.000 Beschäftigten in
Deutschland ordnen die Experten verschiedenen anderen Rechtsformen zu,
bei denen Mitbestimmungsrechte von Beschäftigten legal blockiert werden.
Knapp die Hälfte verwenden Konstruktionen über (Familien-)Stiftungen,
zum Beispiel die E
inzelhändler Aldi und Lidl.
– Hunderte Unternehmen ignorieren rechtswidrig Mitbestimmungsrechte –
Zusätzlich zu den 194 „Mitbestimmungsvermeidern“ zählen die Forscher 113
Unternehmen mit je mindestens 2000 inländischen Beschäftigten, die qua
Größe und Rechtsform zwar gesetzlich verpflichtet seien, einen
paritätisch mitbestimmten Aufsichtsrat einzurichten, diese Vorgabe aber
schlicht ignorierten. Als Beispiele nennt Unternehmensrechtler Sick die
Drogeriekette Rossmann oder den
Gebäudedienstleister Piepenbrock. Nach
einer älteren Untersuchung am Lehrstuhl von Professor Bayer setzt sich
diese „rechtswidrige Mitbestimmungsignorierung“ bei Hunderten
mittelgroßen Unternehmen fort, in denen Arbeitnehmer nach dem so
genannten Drittelbeteiligungsgesetz eigentlich Anrecht auf ein Drittel
der Stimmen im Aufsichtsrat hätten.
– Reformen gegen Aushebelung von Mitbestimmung –
Der Standortvorteil Mitbestimmung sei durch die vielen
Umgehungsmöglichkeiten und Verstöße in Gefahr, stellen die Experten der
Hans-Böckler-Stiftung fest. Dabei habe der Gesetzgeber sowohl auf
deutscher als auch auf europäischer Ebene etliche Möglichkeiten, der
Mitbestimmung Geltung zu verschaffen. Nach Einschätzung der Fachleute
ist der gesetzgeberische Aufwand eher gering. Sie empfehlen als zentrale
Reformen:
- Durch ein sogenanntes „Mitbestimmungserstreckungsgesetz“ müsse
klargestellt werden, dass die Wahl einer Konstruktion mit ausländischer
Rechtsform die Mitbestimmung nicht aushebeln kann. Es gelte
sicherzustellen, dass alle Unternehmen mit mindestens 500 Beschäftigten
in Deutschland die Mitbestimmungsgesetze anwenden. Das ist nach
Einschätzung des I.M.U. europarechtskonform möglich.
- Bei europäischen Rechtsformen wie der SE müsse der Gesetzgeber
gewährleisten, dass das „Einfrieren“ auf einem Status ohne oder mit
geringer Mitbestimmung durch taktische Umwandlung verhindert wird.
Konkret heißt das: Wächst die Beschäftigtenzahl über die Schwellenwerte
von 500 bzw. 2000 Beschäftigten, müssen die Mitbestimmungsrechte
entsprechend mitwachsen.
- Unternehmen, die Mitbestimmungsrechte rechtswidrig nicht anwenden, müssen effektiv sanktioniert werden.
- Die EU-Kommission sollte eine Rahmenrichtlinie in Angriff nehmen, die
europaweit generelle Mindeststandards für die Arbeitnehmerpartizipation
setzt. Die Beteiligung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer müsse als
Kernelement der europäischen Corporate Governance verankert werden.
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Hans-Böckler-Stiftung
Rainer Jung
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E-Mail: Rainer-Jung@boeckler.de
Originalpublikation:
Mitbestimmung der Zukunft. Mitbestimmungsreport Nr. 58, April 2020. Download:
https://www.boeckler.de/pdf/p_mbf_report_2020_58.pdf
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