Medizin am Abend Berlin Fazit: Selbstmord durch Pille – das ist falsch
Berufsverbandes der Frauenärzte e.V. (BVF) und
der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe e.V. (DGGG)
vereint im German Board and College of Obstetrics and Gynecology (GBCOG)
Soeben hat das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte
BfArM einen Warnhinweis herausgebracht, dass die Verwendung hormoneller
Verhütungsmittel die Selbstmordgefahr erhöhen könnte (1).
Das Institut
stützt sich auf einen Warnhinweis der Europäischen Arzneimittelagentur
EMA (2) und diese wiederum auf zwei dänische Kohortenstudien aus dem
Jahr 2016 (3) und 2017 (4).
„Diese dänischen Studien haben so erhebliche methodische Fehler, dass
sie wertlos sind“, erläutern Dr. med. Christian Albring, Präsident des
Berufsverbandes der Frauenärzte und Prof. Dr. med. Anton Scharl,
Präsident der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe,
gemeinsam Präsidenten des German Board and College of Obstetrics and
Gynecology (GBCOG).
Hier die wesentlichen Kritikpunkte:
1. Auswertung nur aus den Bevölkerungsregistern
Es wurden lediglich die Daten aus den dänischen Bevölkerungs- und
Gesundheitsregistern verwendet. Es wurden keine ärztlichen Diagnosen in
die Studie mit einbezogen. In diesen Studien wurde festgestellt, dass
Mädchen und Frauen, die aktuell hormonell verhüteten, häufiger
Antidepressiva bekamen (2,2% gegenüber 1,7%) als Mädchen und Frauen ohne
hormonelle Verhütung und dass in dieser Gruppe häufiger
Selbstmordversuche (0,15% gegenüber 0,18%) und Selbstmorde (0,0006%
gegenüber 0,0019% pro Jahr) auftraten.
2. Vergleich hormonelle Verhütung versus keine hormonelle Verhütung unvollständig
Junge Mädchen und Frauen, die hormonell verhüten, sind in der
überwiegenden Zahl sexuell aktiv.
Man kann davon ausgehen, dass junge
Mädchen und Frauen, die nicht hormonell verhüten, in weit geringerem Maß
sexuell aktiv sind. Im Grunde genommen wurde also in beiden dänischen
Studien ein Vergleich gezogen
zwischen sexuell aktiven und sexuell nicht
aktiven Mädchen und Frauen und zwar mit völlig unklaren
Überschneidungen.
3. Arztkontakte – wer, wann, wie oft?
Hormonelle Verhütungsmittel sind verschreibungspflichtig. Es sind
deshalb regelmäßige Arztbesuche notwendig zur Verordnung und für
Kontroll-Untersuchungen.
Von den Mädchen und Frauen in den dänischen
Studien, die keine hormonellen Verhütungsmittel verwendeten, ist
unbekannt, ob und wie häufig sie einen Arzt aufsuchten. Bei regelmäßigen
Arztbesuchen können auch weitere Diagnosen gestellt werden, von
Bluthochdruck bis Depression.
Bleiben Arztbesuche aus, werden diese
Erkrankungen später oder gar nicht diagnostiziert.
In der Studie zur Depressivität wurden also junge Mädchen und Frauen mit
gesicherten, regelmäßigen Arztkontakten verglichen mit solchen, bei
denen nichts über mögliche Arztbesuche bekannt war.
4. Depressionen und Suizidalität von der Hormontyp und -dosis unabhängig
Wenn die Einwirkung der Hormone aus den Verhütungsmitteln eine
depressive Symptomatik verstärken würde,
dann müssten bei Mädchen und
Frauen, die Arzneimittel mit einer höheren Dosierung erhalten, häufiger
Depressionen zu sehen sein. Das ist nicht der Fall. Die Verordnung von
Antidepressiva ist völlig unabhängig von der Hormondosis, die in den
Verhütungsmitteln verwendet wurde.
Zudem haben unterschiedliche Östrogene und Gestagene auf die Psyche sehr
unterschiedliche, teilweise gegensätzliche Wirkungen. Was das
Selbstmordrisiko angeht, so wäre zu erwarten, dass Verhütungsmittel, von
denen ein stärkerer Einfluss auf die Stimmung bekannt ist, zu einem
höheren Suizidrisiko führen. Das ist nicht der Fall.
Die Erhöhung des
der Selbstmordgefahr ist unabhängig davon, welche Hormondosierungen,
welche Östrogen- und Gestagentypen verwendet wurden.
Alle diese Faktoren sprechen dafür, dass es sich
lediglich um einen
zeitlichen Zusammenhang zwischen hormoneller Verhütung, Verordnung von
Antidepressiva bzw. Suizidalität handelt, dass aber keine ursächlichen
Zusammenhänge bestehen.
5. Depressivität – zu selten diagnostiziert
Depressionen treten bei Jugendlichen und jungen Frauen in einer
Häufigkeit von über 10% auf, wie eine sehr sorgfältige Studie des
Robert-Koch-Instituts gezeigt hat (5).
Aber sie können nur
diagnostiziert und behandelt werden, wenn sich die Erkrankten bei einem
Arzt vorstellen. Da der Krankheitswert der Depression oft gar nicht von
den Betroffenen selbst erkannt wird, wird die Diagnose häufig anlässlich
eines Arztkontaktes aus einem anderen Grund gestellt. In der dänischen
Studie von 2016 nahmen 2,2% der Frauen, die hormonell verhüteten,
Antidepressiva ein, dagegen nur 1,7% derer, die nicht hormonell
verhüteten. Auch wenn die Verordnung eines Antidepressivums nicht bei
allen depressiven Erkrankungen indiziert ist, kann man aus diesen Zahlen
vermuten, dass bei Frauen, die sich nicht bei einem Arzt vorstellen,
bei Weitem zu selten die Diagnose „Depressive Erkrankung“ gestellt wird.
6. Sexuelle Aktivität – explodierende Gefühle
Zu sexueller Aktivität gehören Leidenschaft, Verliebtheit und Liebe,
aber auch Kränkung, Verlassenwerden, Eifersucht, Gewalt, ebenso wie
Konflikte mit den Erziehungsberechtigten.
Der Beginn der sexuell aktiven
Zeit ist als wesentlicher Auslöser für depressive Episoden bekannt.
Beide Studien ignorieren, dass die Verwendung hormoneller
Verhütungsmittel einen grundlegenden biographischen Einschnitt für junge
Mädchen und Frauen darstellt und vielfach den Beginn eines
konfliktreichen Lebensabschnitts markiert.
7. Selbstmord – Pille oder Gewalt?
Bei Jugendlichen, die einen Suizidversuch unternehmen, ist fast immer
eine Krisensituation vorausgegangen.
Häufig werden Trennungen der
Eltern, Drogen- und Alkoholkonsum, Gewalt und sexueller Missbrauch als
auslösendes Ereignis angegeben (6).
Die dänische Studie aus 2017 ist nicht in der Lage, zwischen
Krisensituationen im Zusammenhang mit Partnerschaften und sexueller
Aktivität einerseits und hormoneller Verhütung andererseits zu
unterscheiden.
Fazit
„Die Zahlen aus den beiden dänischen Studien beschreiben einen
zeitlichen Zusammenhang, aber mehr auch nicht“, erläutert Dr. med.
Albring, Präsident des Berufsverbandes der Frauenärzte. „Um die Frage zu
beantworten, ob ein Arzneimittel bestimmte Nebenwirkungen hervorruft,
und um dabei zufällige Zusammenhänge auszuschließen,
muss man
aufwendige, am besten doppelblinde Studien durchführen, bei der weder
Arzt noch Studienteilnehmer wissen, ob sie ein Plazebo oder das
Arzneimittel bekommen“, erläutert Prof. Dr. med. Anton Scharl, Präsident
der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe. In solchen
Studien, die es auch für hormonelle Verhütungsmittel durchaus gibt,
wurden bisher widersprüchliche Ergebnisse gefunden, sowohl positive als
auch negative Veränderungen.
Es konnte aber auch gezeigt werden, dass
sich vor allem Frauen, bei denen bereits vor der Behandlung eine
depressive Verstimmung oder ein starkes prämenstruelles Syndrom
vorhanden war, die psychischen Symptome verstärken konnten –
andererseits aber kann eine geeignete hormonelle Verhütung bei schwerem
prämenstruellem Dysphorie-Syndrom auch hilfreich sein.
-
„Es gibt sehr unterschiedliche hormonelle Verhütungsmittel mit
Wirkstoffen, die sehr unterschiedlich auf die Psyche wirken können“, wie
Prof. Dr. med. Diethelm Wallwiener, Sprecher des GBCOG, zusammenfassend
betont.
- Wenn ein Mädchen oder eine Frau unter einer bestimmten Art der
Verhütung Stimmungsveränderungen beobachtet, dann sollte sie das mit
ihrer Frauenärztin oder ihrem Frauenarzt besprechen, sodass eine andere,
möglichst ebenso zuverlässige Verhütung gefunden werden kann.
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QUELLEN:
(1) Bundesinstitut für Arzneimittel, Rote-Hand-Briefe. 21.01.2019
https://www.bfarm.de/SharedDocs/Risikoinformationen/Pharmakovigilanz/DE/RHB/2019...
(2) European Medicines Agency, Pharmacovigilance Risk Assessment Committee (PRAC) 01.-04.10.2018
https://www.ema.europa.eu/documents/prac-recommendation/prac-recommendations-sig... S. 6
(3) Skovlund, CW, Mørch LS, Kessing LV, Lidegaard Ø. Association of
Hormonal Contraception With Depression. JAMA Psychiatry.
2016;73(11):1154-1162. doi:10.1001/jamapsychiatry.2016.2387
https://jamanetwork.com/journals/jamapsychiatry/fullarticle/2552796
(4) Skovlund CW, Mørch LS, Kessing LV, Lange T, Lidegaard Ø. Association
of Hormonal Contraception With Suicide Attempts and Suicides. Am J
Psychiatry. 2018 Apr 1;175(4):336-342. doi:
10.1176/appi.ajp.2017.17060616. Epub 2017 Nov 17.
https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/29145752
(5) Robert-Koch-Institut zum Weltgesundheitstag 2017: Daten und Fakten zu Depressionen
https://www.rki.de/DE/Content/Gesundheitsmonitoring/Gesundheitsberichterstattung...
(6) AWMF, S2K-Leitlinie Suizidalität im Kindes- und Jugendalter, Dt.
Ges. f. Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie
https://www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/028-031l_S2k_Suizidalitaet_KiJu_201...
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