Medizin am Abend Berlin Fazit: Neue Studienergebnisse zur Prokrastination
Wissenschaftler der Universitätsmedizin Mainz haben im Rahmen des
Forschungsschwerpunkts Medienkonvergenz der Johannes
Gutenberg-Universität Mainz die Verbreitung und Risikomerkmale für
Prokrastination in der deutschen Bevölkerung untersucht. Die
Repräsentativ-Erhebung zeigte, dass Menschen, die Tätigkeiten häufig
aufschieben, seltener in Partnerschaften lebten, häufiger arbeitslos
waren und über ein geringes Einkommen verfügten.
Betroffen waren vor
allem männliche Schüler und Studierende. Die Studie bestätigt, dass
ausgeprägtes Aufschiebeverhalten von wichtigen Tätigkeiten mit Stress,
Depression, Angst, Einsamkeit und Erschöpfung einhergeht sowie die
Lebenszufriedenheit verringert.
Universitätsmedizin Mainz und Schwerpunkt Medienkonvergenz der
Johannes Gutenberg-Universität Mainz veröffentlichen
neue Studie zur
Prokrastination
Im Volksmund gilt die Weise „Was Du heute kannst besorgen, das
verschiebe nicht auf morgen!“
Doch dieser Appell verhallt im Alltag
vieler Menschen häufig. Stattdessen schieben und verschieben sie
geplante Handlungen immer wieder vor sich her.
Fachleute nennen dieses
insbesondere bei jungen Menschen weit verbreitete Phänomen
Prokrastination. Wissenschaftler der Klinik und Poliklinik für
Psychosomatische Medizin und Psychotherapie der Universitätsmedizin
Mainz haben nun mittels einer interdisziplinären Befragung die
Verbreitung und Risikomerkmale für Prokrastination in der deutschen
Bevölkerung untersucht.
Die im Rahmen des Forschungsschwerpunkts
Medienkonvergenz der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU)
durchgeführten Studie zeigte folgende, zentrale Ergebnisse:
- Menschen,
die wichtige Tätigkeiten häufig aufschoben, lebten häufiger ein
Single-Dasein, waren vermehrt von Arbeitslosigkeit betroffen, verfügten
über ein geringes Einkommen und waren insbesondere unter männlichen
Schülern oder Studierenden zu finden.
- Negative und dem Aufschiebenden
durchaus bekannte Begleiterscheinungen dieses Verhaltens waren zumeist
Stress, Depression, Angst, Einsamkeit und Erschöpfung. Die Ergebnisse
sind nun in der renommierten Fachzeitschrift „PLOSone“ erschienen.
Jeder weiß: Das Leben besteht aus Rechten und Pflichten. Der Begriff
„Pflicht“ ist jedoch häufig negativ besetzt, das Gegenteil von Spaß und
damit zumindest kurzfristig betrachtet nicht von erstrebenswertem
Nutzen. Zumal es ja scheinbar wesentlich attraktivere und vermeintlich
ebenso wichtige Dinge zu tun gibt. Doch so zu denken und zu handeln kann
sich langfristig als Fehler herausstellen. Denn die Vermeidung einer
unangenehmen Tätigkeit zieht häufig ein weiteres Umgehen dieser oder
anderer negativ empfundener Aufgaben nach sich.
Mit der Zeit bildet sich
dann ein erlerntes, nicht unproblematisches Verhaltensmuster heraus:
Prokrastination.
Wie so ein Lernprozess ablaufen kann, verdeutlicht folgendes Fallbeispiel:
Der 32-jährige Thomas P. ist im 20. Semester eines
sozialwissenschaftlichen Studiengangs eingeschrieben. Seine Tätigkeit
als Aushilfe in der Gastronomie reicht gerade, um ihn finanziell über
Wasser zu halten. Er berichtet mit Stolz, dass er nicht mehr auf seine
Eltern angewiesen sei, deren Kontakt er meidet,
um peinliche Rückfragen
zu seinem Studium zu entgehen. Ansonsten widmet er die Nächte seiner
CD-Sammlung und Onlineaktivitäten wie Recherchieren, Videos schauen oder
gelegentlichem Spielen. Tagsüber schläft er. Den Kontakt zu
Kommilitonen an der Universität hat er verloren, da er seit mehreren
Jahren nicht mehr regelmäßig an Lehrveranstaltungen teilnimmt. Längst
ist sein Studiengang reformiert und umgestellt und er in lebt in
Unkenntnis darüber, welche Scheine er noch benötigt, um sein Studium
abzuschließen.
Doch weil er sich schämt, sucht er nicht das zuständige
Prüfungsamt auf. Mittlerweile leidet er zunehmend unter depressiven
Zuständen, Schlafstörungen und Erschöpfung.
Kein Einzelfall, wie die aktuelle Studie des Forschungsschwerpunkts
(FSP) Medienkonvergenz der JGU belegt. Der Direktor der Klinik und
Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie der
Universitätsmedizin Mainz und Mitglied im Koordinationsausschuss des FSP
Medienkonvergenz, Univ.-Prof. Dr. Manfred Beutel, der die Studie
initiiert und geleitet hat, fasst deren Ergebnisse so zusammen:
„Die
Repräsentativ-Erhebung zeigte, dass Menschen, die Tätigkeiten häufig
aufschieben, seltener in Partnerschaften lebten, häufiger arbeitslos
waren und über ein geringes Einkommen verfügten. Betroffen waren vor
allem junge Männer. Schüler und Studierende prokrastinierten dabei
häufiger als ihre berufstätigen oder in einer Ausbildung befindlichen
Altersgenossen.
- Die Studie bestätigt, dass ausgeprägtes
Aufschiebeverhalten von wichtigen Tätigkeiten mit Stress, Depression,
Angst, Einsamkeit und Erschöpfung einhergeht. Insgesamt war bei
Prokrastination auch die Lebenszufriedenheit verringert.“ Die
Studienkohorte umfasste insgesamt 2.527 Personen im Alter von 14 bis 95
Jahren.
Ein Ziel der Mainzer Wissenschaftler war es, eine Antwort auf folgende
Frage zu finden:
Warum schieben Menschen Tätigkeiten auf, wenn dies
absehbar zu Stress und negativen gesundheitlichen Folgen führt?
-
Prokrastination ist ein erlerntes Verhalten, das unmittelbar durch
Vermeidung unangenehmer Tätigkeiten verstärkt wird. Warum bestimmte
Tätigkeiten negative Gefühle hervorrufen, wird von den Betroffenen zu
wenig hinterfragt. Leistungsanforderungen sind häufig mit
Versagensängsten verbunden, eigene Leistungsansprüche sind
möglicherweise zu hoch gesteckt und Zielsetzungen unrealistisch.
Ersatzhandlungen wie beispielsweise Medienkonsum haben überdies häufig
unmittelbar positive Konsequenzen. Nachteilige negative Konsequenzen wie
Versagen, Depression oder Einsamkeit treten hingegen erst langfristig
auf und sind damit weniger verhaltensbestimmend.
Die Studie zeigte, dass dies vor allem für junge Menschen in Schule oder Studium zutrifft.
Doch was sind die Gründe dafür?
Offenbar gibt ein Beschäftigungsverhältnis eine feste Struktur und
Orientierung. Ein Studium erfordert hingegen
mehr Selbstorganisation und
-disziplin.
- Doch junge Menschen befinden sich in einem Alter, in dem
sie die Zeit als scheinbar unbegrenzt empfinden und ihnen vielfach
Gewissenhaftigkeit nicht so wichtig ist. Sie leben in dem Gefühl, dass
ihnen das Leben und eine Zukunft offenstehen, die ihnen schier unzählige
und vielfältigste Möglichkeiten und Chancen bieten. Der Studienanfänger
sieht sich beispielsweise vor die Wahl aus tausenden Studiengängen
gestellt. Zudem sind Erwerbsbiographien weniger geradlinig und planbar
geworden.
- Beides kann viele Menschen überfordern und zu einer
Prokrastination beitragen.
Für Studienleiter und Klinikdirektor Professor Beutel Anlass genug, um
zu handeln:
„Aufgrund der steigenden Häufigkeit derartiger
Krankheitsverläufe haben wir ein spezielles Behandlungsangebot für junge
Erwachsene mit Prokrastinationsverhalten entwickelt.
Im stationären
Rahmen und der damit verbundenen Struktur dienen aufeinander abgestimmte
einzel- und gruppentherapeutische Behandlungselemente der Überwindung
der Prokrastination und damit verbundenen, oft tiefgreifenden
Entwicklungsblockaden.
- Der Teufelskreis aus Aufschieben, Vermeidung,
Versagensgefühlen, Erschöpfung und Depression wird in der stationären
Behandlung sorgfältig aufgearbeitet.“
So konnte beispielweise auch dem
jungen Mann aus dem Fallbeispiel geholfen werden: Während seiner
Behandlung in der psychosomatischen Klinik normalisierte er seinen
Tagesablauf und setzte sich klare und realistische Ziele, die er Schritt
für Schritt umsetzte.
- So klärte er seine Studiensituation beim
Prüfungsamt und führte ein offenes Gespräch mit seinen Eltern.
Für die Wissenschaftler des Schwerpunkts Medienkonvergenz birgt die
Studie darüber hinaus weiteres Erkenntnispotenzial:
Sie wollen künftige
Auswertungen der Studie dazu nutzen, um zu erfahren, inwieweit sich die
Nutzung des allseits präsenten Online-Angebots an Ablenkungen durch
Computer und Smartphone auf Prokrastination auswirkt.
Originalpublikation: Beutel, M. E., Klein, E. M., Aufenanger, S.,
Brähler, E., Dreier, M., Müller, K.W., Quiring, O., Reinecke, L.,
Schmutzer, G., Stark, B., Wölfling, K. (2016). Procrastination, Distress
and Life Satisfaction Across the Age Range – A German Representative
Community Study. PLOSONE. [in press]
DOI: 10.1371/journal.pone.0148054
Medizin am Abend Berlin DirektKontakt:
www.medizin-am-abend.blogspot.com

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Univ.-Prof. Dr. Manfred Beutel,
Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie,
Universitätsmedizin Mainz, Tel: 06131 / 17-2841, Fax: 06131 / 17-6688,
E-Mail: manfred.beutel@unimedizin-mainz.de
Barbara Reinke, Universitätsmedizin Mainz,
Tel: 06131 / 17-7428, Fax: 06131 / 17-3496,
E-Mail: pr@unimedizin-mainz.de
Über die Universitätsmedizin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz
Die Universitätsmedizin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz ist die
einzige medizinische Einrichtung der Supramaximalversorgung in
Rheinland-Pfalz und ein international anerkannter Wissenschaftsstandort.
Sie umfasst mehr als 60 Kliniken, Institute und Abteilungen, die
fächerübergreifend zusammenarbeiten. Hochspezialisierte
Patientenversorgung, Forschung und Lehre bilden in der
Universitätsmedizin Mainz eine untrennbare Einheit. Rund 3.300
Studierende der Medizin und Zahnmedizin werden in Mainz ausgebildet. Mit
rund 7.500 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ist die
Universitätsmedizin zudem einer der größten Arbeitgeber der Region und
ein wichtiger Wachstums- und Innovationsmotor. Weitere Informationen im
Internet unter www.unimedizin-mainz.de
Über den Forschungsschwerpunkt Medienkonvergenz der Johannes Gutenberg-Universität Mainz
Ziel des seit 2007 bestehenden interdisziplinären Forschungsschwerpunkts
ist es, die Folgen der rasanten Medienevolution und ihre Auswirkungen
auf Kommunikation, Märkte und Nutzungsverhalten zu untersuchen. Die an
der Johannes Gutenberg-Universität Mainz vertretenen Medienfächer
(Buch-, Film-, Theaterwissenschaft, Publizistik und Journalistik) sowie
Medienrecht, -pädagogik, -ökonomie, -psychologie, Neurolinguistik und
Psychosomatik haben sich hierfür zu einem stabilen Verbund
zusammengeschlossen. Dabei gilt es, den gemeinsamen Forschungsansatz
stets von neuem an die Entwicklungsdynamik des gesellschaftlichen
Wandels durch die sich wandelnden Medien anzupassen. Weitere
Informationen im Internet unter www.medienkonvergenz.uni-mainz.de/