Polyneuropathie durch Diabetes-Behandlung

Medizin am Abend: Häufiger als angenommen: Polyneuropathie durch Diabetes-Behandlung

Polyneuropathien nach einer erfolgreichen Blutzuckersenkung sind offenbar
stärker verbreitet als angenommen: Fast 11 Prozent der Diabetiker erlitten
gemäß einer neuen Studie schmerzhafte Nervenschäden – je schneller der
Blutzucker kontrolliert wird, desto größer scheint das Risiko. „Diese
Arbeit ist von großer praktischer Bedeutung“, sagt Professor Claudia
Sommer von der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN). „Wenn sich die
Befunde bestätigen, müsste der Stoffwechsel bei Patienten mit Diabetes in
Zukunft deutlich langsamer normalisiert werden“, so die leitende
Oberärztin an der Neurologischen Klinik der Universität Würzburg.

Epidemiologische Schätzungen besagen, dass eine diabetische
Polyneuropathie (PNP) ungefähr 30 Prozent der stationären
Diabetespatienten, außerdem 20 Prozent der Diabetespatienten in der
Gesamtbevölkerung betrifft. 13 bis 26 Prozent der Diabetiker klagen über
chronische Schmerzen aufgrund von PNP.

Wie die Neurologen Christopher H. Gibbons und Roy Freeman vom Beth Israel
Deaconess Medical Center der Harvard Medical School in der Fachzeitschrift
Brain berichten, haben sie die Daten von 910 Diabetikern ausgewertet, die
in einer Fachklinik auf eine diabetische Neuropathie hin untersucht
wurden. Anhand der Veränderung eines Blutwertes (Abnahme von HbA1c um
mindestens 2 Prozent) unterschied man 168 Patienten, deren
Blutzuckerkontrolle sich innerhalb von drei Monaten deutlich verbesserte,
von 742 weiteren Diabetikern, deren Blutzuckerkontrolle sich weniger
schnell oder gar nicht verbesserte.

Neuropathien viel häufiger als gedacht

Der auffälligste Befund war, dass in der ersten Gruppe 62 Prozent der
Patienten eine behandlungs-induzierte Neuropathie bei Diabetes (engl.
„Treatment-induced Neuropathy in Diabetes“, TIND) entwickelten, mit einer
akut einsetzenden Neuropathie oder Symptomen einer Schädigung des
autonomen Nervensystems. Individuen, deren HbA1c über drei Monate hinweg
weniger als 2 Prozent abgenommen hatte, litten dagegen nur zu 4,3 Prozent
unter Neuropathien bzw. autonomen Symptomen. „Die hohe Inzidenz von TIND –
bezogen auf die Gesamtpopulation waren es 10,9 Prozent – hat die Autoren
offenbar selbst erstaunt“, sagt Professor Sommer, die neuropathische
Schmerzen seit Jahren intensiv erforscht. „Wir Neurologen sehen solche
Fälle extrem selten, was aber auch daran liegen kann, dass diese Patienten
primär bei den Diabetologen behandelt werden.“

Möglich ist auch, dass die Häufigkeit von TIND in dieser Studie
überschätzt wurde, weil Gibbons und Freeman unter allen Diabetikern in der
Fachklinik nur jene in die Studie eingeschlossen hatten, die auf eine
Neuropathie hin untersucht worden waren. Dies bemerken in einem Kommentar
ebenfalls in Brain die Neurologen Phillip A. Low und Wolfgang Singer vom
Mayo Clinic College of Medicine. Unabhängig davon sei dies die erste klare
Beschreibung von TIND bei einer großen Anzahl Betroffener, heben Low und
Singer hervor. Mit dieser Studie würde sowohl die Wahrscheinlichkeit einer
TIND definiert, als auch die wichtigsten Risikofaktoren.

HbA1c-Wert mit Bedacht absenken

Als größten dieser Risikofaktoren haben die Forscher eindeutig das Ausmaß
der Veränderung des HbA1c-Wertes ausgemacht. Je größer und je schneller
die Reduktion, umso größer war nicht nur das Risiko für TIND, sondern auch
für eine Netzhauterkrankung (Retinopathie) und für spezifische Warnzeichen
einer Nierenerkrankung (Mikroalbuminurie).

Ob die – eigentlich beabsichtigte – Absenkung des HbA1c-Wertes bei
Diabetikern durch Insulingaben erzielt wurde, durch andere Medikamente zur
Blutzuckerregulierung oder durch eine Umstellung der Ernährung, spielte
für das TIND-Risiko dagegen keine Rolle. „Der naheliegende Ratschlag wäre
daher, den HbA1c-Wert mit Bedacht abzusenken, und zwar wie die Autoren
selbst vorschlagen, um weniger als 2 Prozent in drei Monaten“, sagt
Sommer.

Rätselhaft ist bislang noch der Mechanismus, durch den ein veränderter
Glukosespiegel zu Nervenschäden und Dysfunktionen führen kann. Die Autoren
spekulieren über eine mögliche Rolle des Gewichtsverlustes, doch Professor
Sommer ist skeptisch, da dieser nur bei sechs Patienten auftrat. Die
Neurologin würde diesem Phänomen gerne nachgehen und fordert auch ihre
Kollegen zu weiteren Forschungen auf: „Morphologische Untersuchungen der
Hautinnervation, mikroneurographische Analysen der Nozizeptoren und
metabolische Untersuchungen zum Beispiel auf glykierte Serumproteine vor
und nach der HbA1c-Regulierung könnten helfen, die Pathophysiologie dieser
rätselhaften Erkrankung aufzuklären.“

Parallel dazu müssten auch Studien unternommen werden, um herauszufinden,
wie bei Patienten mit TIND der Blutzuckerspiegel am besten eingestellt
werden sollten. „Auch dies ist ein Gebiet, auf dem wir im Interesse
unserer Patienten eng mit den Kollegen aus der Diabetologie
zusammenarbeiten wollen“, sagt Sommer.

Quellen

Gibbons, C. H., Freeman, R. (2015). Treatment-induced neuropathy of
diabetes: an acute, iatrogenic complication of diabetes. Brain, 138(1),
43–52. doi:10.1093/brain/awu307

Low, P. A., & Singer, W. (2015). Treatment-induced neuropathy of diabetes:
an energy crisis? Brain, 138(1), 2–3. doi:10.1093/brain/awu327

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Prof. Dr. med. Claudia Sommer
Neurologische Klinik
Universitätsklinikum Würzburg
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