Gendefekt löst Diabetes und Degeneration des Nervensystems aus

Die Stoffwechselstörung Diabetes mellitus und degenerative Erkrankungen
des Nervensystems können, unter bestimmten Umständen, ein und dieselbe
Ursache haben. Das fanden Neurowissenschaftler des Hertie-Instituts für
klinische Hirnforschung gemeinsam mit Kollegen des Helmholtz Zentrums
München im Rahmen eines genetischen Forschungsprojekts heraus. In zwei
Familien identifizierten sie einen Gendefekt, der zu einem Mangel eines
wichtigen Eiweißes führt. Es ist für die korrekte Faltung von Eiweißen und
den Abbau von fehlgefalteten Eiweißen in den Zellen von Bauchspeicheldrüse
und Gehirn wichtig.

Ihre Ergebnisse stellen die Forscher in der Fachzeitschrift American
Journal of Human Genetics vor. Der seltene Gendefekt soll künftig als
wichtiges Modell für die Erforschung gemeinsamer Ursachen von Diabetes und
Neurodegeneration dienen.

Wenn in einer Familie gleich mehrere Kinder Erkrankungen entwickeln, die
normalerweise erst im höheren Alter auftreten, werden Genetik-Experten
hellhörig – vor allem wenn die Eltern blutsverwandt sind. In diesem Fall
besteht der Verdacht, dass die Erkrankungen Folge eines Erbleidens sind.
Die Teams um Professor Ludger Schöls vom Hertie-Institut für klinische
Hirnforschung der Universität Tübingen und dem Deutschen Zentrum für
Neurodegenerative Erkrankungen und Dr. Holger Prokisch vom Helmholtz
Zentrum München und dem Deutschen Zentrum für Diabetesforschung, hatten
von einer Familie erfahren, in der drei von vier Kindern unter einem
frühbeginnenden Diabetes litten. Alle drei waren zudem seit frühen Jahren
schwerhörig. Sie litten auch unter Gangstörungen und hatten Probleme bei
zielgerichteten Bewegungen, Ataxie genannt.

Um den verantwortlichen Genfehler zu finden, entschlüsselten die Tübinger
und Münchener Forscher das Exom von zwei der drei Geschwister. Das Exom
macht zwar nur etwa ein Prozent des menschlichen Erbgutes (Genom) aus,
beinhaltet aber die meisten heute identifizierten krankheitsverursachenden
Erbgutveränderungen (Mutationen). Beide Geschwister wiesen eine Mutation
im DNAJC3-Gen auf. „Das Gen wurde bereits vorher in Mausmodellen mit
Diabetes in Verbindung gebracht, aber niemand wusste, was es beim Menschen
verursacht“, berichtet Dr. Prokisch. „Die Entfernung des Gens in
sogenannten Knockout-Mäusen führt zum Untergang der Beta-Zellen, die in
der Bauchspeicheldrüse Insulin produzieren“, erklärt der Letztautor
weiter.

Das DNAJC3-Gen enthält die Information für ein Chaperon-Eiweiß. So
bezeichnen Biologen Eiweiße, die neu hergestellten Proteinen bei der
Faltung helfen und den Abbau fehlgefalteter Proteine unterstützen. Die
Mutation, die die Forscher auch bei dem dritten erkrankten Geschwisterkind
entdeckten, führt zum Ausfall des Chaperons DNAJC3. Aufgrund einer
sogenannten loss-of-function-Mutation wird nur ein verkürztes und für die
Zelle wertloses DNAJC3-Protein gebildet.

„Da das DNAJC3-Protein an der korrekten Faltung einer Vielzahl von
Proteinen beteiligt ist, sind die Folgen gravierend“, erläutert Dr.
Matthis Synofzik vom Hertie-Institut für klinische Hirnforschung und dem
Tübinger Standort des Deutschen Zentrums für Neurodegenerative
Erkrankungen . Betroffen waren nicht nur die Insulin produzierende Zellen
in der Bauchspeicheldrüse, sondern auch verschiedene Typen von
Nervenzellen. Die Kernspintomografie zeigte vor allem eine Rückbildung
(Atrophie) des Kleinhirns. Dieses ist unter anderem für die Koordinierung
von Bewegungen zuständig. „Das erklärt die Gangstörungen und die Ataxie“,
so Synofzik, Erstautor der Studie. Er nimmt an, dass auch das Großhirn
betroffen ist, da die Betroffenen Schwierigkeiten bei Rechenaufgaben
hatten. Eine verminderte Nervenleitgeschwindigkeit zeigte, dass nicht nur
das zentrale Nervensystem, sondern auch die Nerven an Armen und Beinen
Schäden aufwiesen. Alle Betroffenen waren auffallend klein für ihr Alter.
Das legt nahe, dass auch Wachstumsstörungen zum Krankheitsbild gehören.

Um herauszufinden, ob es sich um einen Einzelfall handelt, recherchierten
die Forscher in der „Diabetes-Patienten-Verlaufsdokumentation“, einer
Datenbank mit 226.194 Diabetespatienten in Deutschland. Dort fanden sie 35
Patienten mit einem ähnlichen Krankheitsbild, von denen acht zu einer Gen-
Analyse bereit waren. Bei einem wurde ebenfalls ein Defekt im DNAJC3-Gen
gefunden. Es handelte sich aber nicht um eine Punktmutation wie in der
ersten Familie, sondern um eine Deletion, bei der ganze Abschnitte des
Gens verloren gegangen sind. Weitere Recherchen ergaben, dass die
Schwester ebenfalls erkrankt war und dieselbe Deletion aufwies. Die Eltern
der Geschwister waren Cousin und Cousine ersten Grades, also ebenfalls
blutsverwandt.

Warum die Mutation „nur“ in der Bauchspeicheldrüse und im Gehirn zum
Zelluntergang führt, ist bisher unklar. Bindegewebszellen der Haut waren
unauffällig, obwohl auch hier das DNAJC3-Protein fehlte. Die neu entdeckte
Genmutation hat laut Synofzik eine Ähnlichkeit zum Wolfram Sydrom 1, bei
dem die Kinder frühzeitig neben einem Diabetes eine Schwerhörigkeit und
Sehstörungen entwickeln. Auch hier führt der verantwortliche Gendefekt
nach heutigen Erkenntnissen zu einer Störung in der Proteinproduktion. Der
Defekt im DNAJC3-Gen soll zukünftig als wichtiges Modell für die
Erforschung der gemeinsamen Ursache von Diabetes und Neurodegeneration
dienen.

Die zentralen Forschungseinrichtungen, die an der Studie beteiligt waren,
sind das Hertie Institut für klinische Hirnforschung an der Universität
Tübingen, das Zentrum für Seltene Erkrankungen in Tübingen, das Deutsche
Zentrum für Diabetesforschung an den Standorten Tübingen, München und
Miami, das Helmholtz Zentrum München sowie das amerikanische Institute of
Human Genetics in Miami.

Originaltitel der Publikation
Synofzik, M. et al. Absence of BiP Co-chaperone DNAJC3 Causes Diabetes
Mellitus and Multisystemic Neurodegeneration; American Journal of Human
Genetics (2014), http://dx.doi.org/10.1016/j.ajhg.2014.10.013

Medizin am Abend DirektKontakt

Silke Jakobi
Hertie-Institut für klinische Hirnforschung (HIH)
Zentrum für Neurologie, Universitätsklinikum Tübingen
Otfried-Müller-Str. 27
72076 Tübingen
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Fax 07071/29-4796
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Dr. Nadja Becker
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