Medizin am Abend Berlin - MaAB-Fazit:
Zusatzlink: Die Pflege in Brandenburg
Wie können Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit Übergewicht und Adipositas zu Programmteilnahmen motiviert werden?
Die Weltgesundheitsorganisation WHO sieht Adipositas als eine der größten Herausforderungen für die öffentliche Gesundheit im 21. Jahrhundert. Das Austrian Institute for Health Technology Assessment (AIHTA) hat nun die in Österreich, Deutschland und der Schweiz angebotenen Gruppenprogramme für Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit Übergewicht und Grad 1 Adipositas sowie zahlreiche internationale Literaturquellen untersucht.
Aus den Ergebnissen haben die Forscherinnen verschiedene Strategien abgeleitet, die bei der Gestaltung von Programmen zu einer besseren Erreichbarkeit der Zielgruppen und folglich auch zu einer höheren Teilnahmemotivation führen können.
- Für die WHO gelten erwachsene Menschen ab einem Body Mass Index (BMI) von 25 als übergewichtig, ab 30 sprechen Expert:innen von Adipositas.
- Übergewicht gilt als einer der Hauptrisikofaktoren für nichtübertragbare Krankheiten wie Diabetes Typ II, Herz-Kreislauferkrankungen, chronische Lungenerkrankungen oder Depressionen.
Daten aus Österreich zeigen, dass aktuell ungefähr ein
Viertel der Kinder und Jugendlichen und mehr als die Hälfte der
Erwachsenen übergewichtig oder adipös sind – Tendenz steigend.
Für die Therapie von Übergewicht und Adipositas werden von den
Krankenkassen unter anderem multimodale Gruppenprogramme angeboten.
Diese setzen sich aus mehreren Elementen – Ernährungs-, Bewegungs- und
Verhaltenstherapie – zusammen und dauern meist mehrere Monate. In einer
aktuellen Studie hat das AIHTA auf Basis internationaler Literatur
analysiert, welche Barrieren für die Teilnahme an Gruppenprogrammen
bestehen und wie Programme gestaltet werden können, um Zielgruppen
besser zu erreichen und sie in den Programmen zu halten.
Zu den im deutschsprachigen Raum recherchierten Programmen (20 für
Kinder und Jugendliche, 14 für Erwachsene) gab es oftmals keine
öffentlich einsehbaren Evaluationen und nur wenige Informationen über
deren Strategien bezüglich Rekrutierung und Motivation potenzieller
Teilnehmer:innen.
Häufig Schwierigkeiten bei Erreichung der Zielgruppen
Laut Studienleiterin Inanna Reinsperger gibt es generell wenig
wissenschaftlich gesicherte Informationen dazu, wie die Anbieter dieser
Programme ihre Zielgruppen erreichen und welche Methoden welchen Anteil
an der Rekrutierung der Programmteilnehmer:innen haben. Eine Analyse von
16 internationalen Studien hat gezeigt, dass meist mehrere aktive und
passive Rekrutierungsmethoden eingesetzt werden.
- Aktive Strategien wie etwa die Überweisung durch Ärzt:innen gekoppelt an Routine-Untersuchungen bzw. direktes Anschreiben mit Informationen zu Studien werden mit passivem Ansprechen der Zielgruppen wie z.B. durch Plakate, Flyer und Informationen in (sozialen) Medien kombiniert.
Die untersuchten Studien berichten dabei über zahlreiche Barrieren auf unterschiedlichen Ebenen:
- Diese umfassen beispielsweise auf gesellschaftlicher Ebene die Wahrnehmung von Übergewicht und Adipositas sowie damit verbundene Stigmatisierung.
Barrieren bei den potenziellen Teilnehmer:innen sind u.a. fehlende Behandlungsmotivation sowie Unterschätzung des Ausmaßes an Übergewicht und bei Jugendlichen die Angst vor Mobbing und Diskriminierung.
Bei Kindern liegt laut
Reinsperger der Fokus sehr stark auf organisatorischen Barrieren.
Außerdem seien die Eltern von Kindern und Jugendlichen mit Übergewicht
mangels hohen Leidensdrucks eher schwer für die Programme zu gewinnen,
bei Adipositas falle das etwas leichter.
Strategien zum Abbau von Barrieren
Als Strategien zum Abbau dieser Barrieren empfehlen die
Studienautorinnen Sarah Wolf und Inanna Reinsperger neben der Schulung
der Rekrutierungspersonen in kultur- und gewichtssensibler Kommunikation
ein gezieltes Ansprechen schwerer erreichbarer Gruppen wie sozial
benachteiligter Personen und Menschen mit Migrationshintergrund direkt
in den für die Zielgruppe relevanten soziokulturellen Settings –
vorzugsweise durch Personen mit ähnlichem Hintergrund und
(mehrsprachigem) Informationsmaterial in einfacher Sprache. Generell ist
zu konstatieren, dass die zeitlichen und örtlichen Rahmenbedingungen
auf die potenziellen Teilnehmer:innen abgestimmt sein sollten:
So kann
eine gewisse Flexibilität des Zeitplans und ein gut erreichbarer
Standort mit öffentlicher Verkehrsanbindung und ausreichend
Parkmöglichkeiten zu einer gesteigerten Teilnahmebereitschaft und
langfristigen Teilnahme führen. Unterstützung bei Kinderbetreuung und
Transport erhöht zudem für Familien die Möglichkeit einer
Programmteilnahme.
Außerdem sollte der Fokus auf positive Botschaften und den Nutzen einer
gesunden Lebensweise für die Teilnehmer:innen statt auf reine
Gewichtsreduktion gelenkt werden: „Wenn ich jetzt nur das Übergewicht
habe und ansonsten gesund bin, ist eine Intervention mit dem Ziel einer
Gewichtsreduktion gar nicht notwendig oder kann vielleicht sogar
schädlich sein, weil sie z.B. den sogenannten Jo-Jo-Effekt fördert und
so längerfristig zu einem höheren Gewicht führen kann“, gibt Inanna
Reinsperger zu bedenken. So empfehlen Leitlinien
Lebensstilinterventionen im Übergewichtsbereich (also BMI zwischen 25
und 30) nur dann, wenn weitere Risikofaktoren oder andere Erkrankungen
vorliegen, die durch eine Gewichtsreduktion verbessert werden könnten.
Erhöhung der Teilnahmemotivation
Eine weitere Herausforderung ist es, die Teilnehmer:innen über die
gesamte Dauer des Programms zu halten, also eine gute Programmadhärenz
zu erreichen. Oftmals kommt es zu frühzeitigen Programmabbrüchen,
wodurch die erhofften Ziele wie Gewichtsreduktion bzw. Verbesserung der
Lebensqualität nicht langfristig erreicht werden. Zu dieser
Fragestellung wurden von den AIHTA-Forscherinnen acht
Literaturübersichten (Reviews) untersucht. In diesen Reviews gab es
eindeutige Hinweise, dass sich etwa zu hohe Erwartungen (z.B. eine
rasche Gewichtsabnahme), eine fehlende Motivation der Eltern und mehrere
frühere Diätversuche bei Erwachsenen negativ auf die Bereitschaft
auswirken, langfristig am Programm teilzunehmen.
Den Studienautorinnen zufolge könnte die Teilnahmemotivation durch eine
Orientierungsveranstaltung vor und das Setzen von realistischen Zielen
zu Programmbeginn erhöht werden. Außerdem trägt die Einbeziehung der
Teilnehmer:innen (Co-Designing) bei der Gestaltung der – bevorzugt
abwechslungsreichen – Programminhalte zur Verbesserung der Adhärenz bei.
Als entscheidend für eine langfristige Teilnahmemotivation haben die
Forscherinnen des AIHTA zudem eine gute Beziehung zu einem geschulten
Betreuungsteam identifiziert, das die Programmteilnehmer:innen
bestenfalls mit motivierenden Rückmeldungen stärkt.
Während bei Programmen für Kinder und Jugendliche die Stärkung des
Selbstvertrauens und das Miteinbeziehen der Familie positive Effekte auf
die Teilnahme zeigt, profitieren Programme für Erwachsene unter
Umständen von finanziellen Anreizen – beispielsweise Gutscheine für
andere Kurse oder die Rückerstattung einer Kaution bei Teilnahme an
einer gewissen Anzahl von Programmterminen. Jedenfalls sollten die
teilweise in den verschiedenen Programmen anfallenden Selbstbehalte für
sozioökonomisch schwächere Personen subventioniert werden.
Verhalten versus Verhältnisse
Abschließend erklärt Studienleiterin Inanna Reinsperger, dass sich die
untersuchten Gruppenprogramme für Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit
Übergewicht und Adipositas nur auf das individuelle Verhalten
fokussieren.
Idealerweise sollte Übergewicht aber – wie auch von der WHO gefordert – im Sinne des gesundheitspolitischen Ansatzes „Health in All Policies“ (Gesundheit in allen Politikfeldern) betrachtet und gesundheitsfördernde Infrastrukturen geschaffen werden: beispielsweise eine bewegungsfreundliche Gestaltung der Lebenswelten und Zugang zu leistbaren und qualitativ hochwertigen Nahrungsmitteln.
Kontakt für inhaltliche Fragen und Interviews:
Austrian Institute for Health Technology Assessment
Mag.a Inanna Reinsperger, MPH
T +43 / 1 / 2368119-18
Garnisongasse 7/20, 1090 Wien
E-Mail: inanna.reinsperger@aihta.at
Web: www.aihta.at
Marietta Mühlfellner; T +43 / 676 / 4082923
E-Mail: marietta.muehlfellner@aihta.at
Ozren Sehic Austrian Institute for Health Technology Assessment GmbH
Garnisongasse 7/20
1090 Wien
Österreich
Wien
E-Mail-Adresse: office@hta.lbg.ac.at
Ozren Sehic Telefon: +43 (0) 1236 8119 -23E-Mail-Adresse: ozren.sehic@aihta.at
Originalpublikation:
Wolf S., Reinsperger I. Strategien zur Rekrutierung und Programmadhärenz bei Gruppenprogrammen für Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit Übergewicht und Grad 1 Adipositas. AIHTA Projektbericht Nr.: 155; 2023. Wien: HTA Austria – Austrian Institute for Health Technology Assessment GmbH.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen