Herzschwäche

 

Herzschwäche: Telemedizin vor allem bei Diabetes von Nutzen

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Post-hoc-Analyse der TIM-HF2-Studie liefert Hinweis, dass positives Ergebnis auf hohen Anteil mitrekrutierter Diabetespatienten zurückzuführen ist.


Seit 2021 wird Telemonitoring bei Herzinsuffizienz (Heart Failure, HF) als digitale Versorgungsform mit Erstattung über die GKV anerkannt. Dem vorausgegangen ist eine lange Ära klinischer Studien, mit denen die Evidenz telemedizinischer Interventionen nachgewiesen werden sollte und teilweise konnte. Der Durchbruch kam wohl letztlich mit den Ergebnissen von TIM-HF2 (Telemedical Interventional Management in Heart Failure II). Hier konnte belegt werden, dass Gesamtmortalität und Hospitalisierung aufgrund kardialer Dekompensation mit Fernüberwachung (Remote Patient Management, RPM) bei HF-Patienten der NYHA-Klasse II/III (n= 1538) signifikant reduziert wird.

Nun weist eine Post-hoc-Analyse der Gruppe um Prof. Friedrich Köhler, Leiter des Arbeitsbereichs Kardiovaskuläre Telemedizin am Deutschen Herzzentrum der Charité (DHZC), darauf hin: Das positive Gesamtergebnis von TIM-HF2 ist vermutlich auf den hohen Anteil von HF-Patienten mit Diabetes (46%, n= 707) in der Studie zurückzuführen. Das Patientenkollektiv mit HF und Diabetes schnitt in allen Kriterien des prospektiven Endpunkts (Hospitalisierungszeit, Gesamtsterblichkeit, kardiovaskuläre Sterblichkeit) deutlich besser ab als die Gesamtkohorte. RPM scheint also vor allem für die mitrekrutierten Patienten mit Diabetes von großem Nutzen zu sein. Im Gegensatz zur Gesamtkohorte war auch die Verbesserung der Lebensqualitätskriterien (physisch und mental) bei Diabetespatienten hochsignifikant. Zumindest gibt die Post-hoc-Analyse des TIM-HF2-Trials den Hinweis, dass Menschen mit Diabetes und Herzschwäche von Fernüberwachung ganz besonders profitieren. Die Effektstärke, Repräsentativität und Langfristigkeit in TIM-HF2 legt nahe, dass eine solche Versorgungsform für alle HF-Patienten mit Diabetes erreichbar und Bestandteil der Regelversorgung sein sollte.

An dieser Stelle muss erwähnt werden: Die Einbindung eines Glukosemanagements in das RPM könnte eine weitere Verbesserung der Effekte bringen. Diabetes hat eine Indikatorfunktion für das kardiale Hochrisiko mit besonders schlechter Prognose bei Herzinsuffizienz. Trotz normaler Koronarperfusion liegt die Sterblichkeit höher als ohne Stoffwechselproblem. Nicht ohne Grund wurden die Behandlungserfordernisse bei Diabetes vor einiger Zeit in die Nationale VersorgungsLeitlinie „Chronische Herzinsuffizienz“ aufgenommen. TIM-HF2 berücksichtigt stoffwechselmedizinische Parameter (Charakterisierung der Krankheitsform, Glukoseverläufe, antidiabetische Medikation usw.) bislang nicht.

Die Ergebnisse der Post-hoc-Auswertungen von TIM-HF2 sprechen dafür, RPM für Patienten mit Diabetes als Regelleistung oder mindestens ergänzend zu bestehenden Versorgungsstrukturen anzubieten – erst recht bei vorhandenen Komorbiditäten wie Herz- und Gefäßerkrankungen. Hierzu wird es sicher der Anstrengung aller Leistungserbringer und Kostenträger bedürfen, um den Zugewinn an Betreuungsqualität und Patientennutzen zu erkennen. Die hohe Koinzidenz von Herzschwäche und Diabetes (Volkskrankheiten!) stellt eine passende Einstiegskonstellation für ein solches Szenario dar. Nachdem Diabetes alle Aspekte des Krankheitsverlaufs von Herzinsuffizienz beschleunigt und verschlechtert, könnte so eine gefährliche und bevölkerungsweit häufige Risikokonstellation eliminiert werden. Telemedizinische Leistungserbringung muss dabei iterativ an evidenzbasierten Daten in die Regelversorgung eingeführt werden, was einem sinnvollen Transformationsprozess unseres Gesundheitssystems zum Nutzen der vielen Patienten mit Diabetes und Herzproblemen entspricht.

Prof. Dr. med. Dr. h.c. Diethelm Tschöpe
Vorsitzender Stiftung DHG

Über die Stiftung DHG (Diabetes I Herz I Gefäße)
Vor 25 Jahren als Themenstiftung unter dem Namen „Der herzkranke Diabetiker“ gegründet, hat die Stiftung ihr Label entsprechend Satzungszweck und inhaltlicher Ausrichtung angepasst. Seit 2024 agiert die Stiftung unter dem Namen „Diabetes I Herz I Gefäße“ (DHG) mit dem Auftrag, zum Krankheitsverständnis beizutragen, Menschen über das Risiko für Herz- und Gefäßkomplikationen aufzuklären und den Dialog zwischen behandelnden Ärzten über Fachgrenzen hinaus zu fördern. Vier Endokrinologen und Diabetologen, fünf Kardiologen und drei Neurologen gehören zum Vorstand. Das Stiftungsteam engagiert sich ehrenamtlich und hält an den Prinzipien Wissenschaftlichkeit, Unabhängigkeit und Glaubwürdigkeit fest. Die Stiftung DHG dient dem gemeinnützigen Zweck. Ziel ist es auch, Forschung voranzubringen und die Versorgung zu verbessern. Standort der DHG-Geschäfts-stelle ist das Deutsche Diabetes-Zentrum (DDZ), das sich bundesweit als Referenzzentrum zum Krankheitsbild Diabetes mellitus versteht.

Originalpublikation:
Koehler F, Koehler J, Bramlage P, Vettorazzi E, Wegscheider K, Lezius S, Spethmann S, Iakoubov R, Vijan A, Winkler S, Melzer C, Schütt K, Dessapt-Baradez C, Paar WD, Koehler K, Müller-Wieland D. Impact of telemedical management on hospitalization and mortality in heart failure patients with diabetes: a post-hoc subgroup analysis of the TIM-HF2 trial. Cardiovasc Diabetol. 2024 Jun 12;23(1):198. doi: 10.1186/s12933-024-02285-0.

Device-detektiertes Vorhofflimmern:

 

Device-detektiertes Vorhofflimmern: Antikoagulation kann bei Gefäßerkrankungen von größerem Nutzen sein

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Eine kombinierte Subgruppenanalyse der ähnlichen Studien NOAH – AFNET 6 (1) und ARTESiA (2) ergab: Patient:innen mit Device-detektiertem Vorhofflimmern und gleichzeitiger Gefäßerkrankung haben ein höheres Risiko für Schlaganfälle und kardiovaskuläre Ereignisse und profitieren möglicherweise stärker von einer oralen Antikoagulation als ohne Gefäßerkrankung. Die Ergebnisse wurden von AFNET Lenkungsausschussmitglied Prof. Renate Schnabel, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE), Hamburg, Deutschland, auf dem Jahreskongress der Europäischen Gesellschaft für Kardiologie (ESC) in London am 02.09.2024 vorgestellt und im European Heart Journal (3) veröffentlicht.


Bei Device-detektiertem Vorhofflimmern handelt es sich um kurze und typischerweise seltene Episoden von Vorhofflimmern, die von Herzschrittmachern, Defibrillatoren oder implantierten Ereignisrekordern erkannt werden. Bei einem Fünftel aller Patient:innen mit einem am Herzen implantierten elektronischen Gerät kommt es zu Device-detektiertem Vorhofflimmern (4). Device-detektiertes Vorhofflimmern kann zu einem Schlaganfall führen, aber das Schlaganfallrisiko bei Device-detektiertem Vorhofflimmern scheint geringer zu sein als bei EKG-dokumentiertem Vorhofflimmern (1 Prozent pro Jahr).

Zwei aktuelle Studien, NOAH – AFNET 6 und ARTESiA, untersuchten den Nutzen einer Antikoagulation bei Menschen mit Device-detektiertem Vorhofflimmern und Schlaganfall-Risikofaktoren, aber ohne EKG-dokumentiertes Vorhofflimmern. In beiden Studien wurden die Teilnehmer:innen nach dem Zufallsprinzip in zwei Gruppen eingeteilt, von denen die eine Gruppe eine Antikoagulation (Edoxaban in NOAH – AFNET 6 und Apixaban in ARTESiA) und die andere Gruppe keine Antikoagulation erhielt, mit dem Ziel, die Wirksamkeit und Sicherheit in beiden Gruppen zu vergleichen.

NOAH – AFNET 6 (Non vitamin K antagonist Oral anticoagulants in patients with Atrial High-rate episodes), eine vom AFNET durchgeführte Wissenschafts-initiierte Studie, wurde aufgrund einer erwarteten Zunahme von Blutungsereignissen bei Patient:innen mit Device-detektiertem Vorhofflimmern vorzeitig abgebrochen, während die Schlaganfall-verhindernde Wirkung geringer als erwartet ausfiel (1). Die schwache Wirkung der Antikoagulation wurde auch bei mehreren Untergruppen festgestellt, darunter Patient:innen mit langen Episoden von Device-detektiertem Vorhofflimmern (5), Patient:innen mit vielen Begleiterkrankungen (6) und Patient:innen mit einem früheren Schlaganfall (7).

ARTESiA (Apixaban for the Reduction of Thrombo-Embolism in Patients with Device-Detected Sub-Clinical Atrial Fibrillation) bestätigte die niedrige Schlaganfallrate bei Patient:innen mit Device-detektiertem Vorhofflimmern und zeigte eine geringe Schlaganfall-reduzierende Wirkung der Antikoagulation (2). Eine Meta-Analyse der Studien NOAH – AFNET 6 und ARTESiA bestätigte eine Zunahme von Blutungen und stellte eine geringe Abnahme von ischämischen Schlaganfällen unter Antikoagulation fest (8).

Prof. Schnabel, wissenschaftliche Leiterin der kombinierten NOAH – AFNET 6 / ARTESiA Subanalyse, die jetzt auf dem ESC Kongress vorgestellt wurde, erläutert den Hintergrund dieser Forschung: „Etwa die Hälfte der Patient:innen mit Device-detektiertem Vorhofflimmern hat eine begleitende Gefäßerkrankung, das heißt einen früheren Schlaganfall oder eine transitorische ischämische Attacke (TIA), eine koronare oder periphere Gefäßerkrankung. Das Hauptziel unserer vorab festgelegten Subgruppenanalyse bestand darin, festzustellen, ob Gefäßerkrankungen die Wirksamkeit und Sicherheit der oralen Antikoagulations-Therapie bei Patient:innen mit Device-detektiertem Vorhofflimmern beeinflussen. Die Ergebnisse aus NOAH – AFNET 6 wurden in einer vordefinierten Sekundäranalyse aus ARTESiA validiert und einer Meta-Analyse unterzogen.“

Etwa die Hälfte der Studienpopulation von NOAH – AFNET 6 und ARTESiA (56 Prozent in NOAH – AFNET 6; 46 Prozent in ARTESiA) hatte eine begleitende Gefäßerkrankung mit einer bestehenden Indikation für eine Acetylsalicylsäure-Therapie. Bei diesen Patient:innen traten Schlaganfall, Herzinfarkt, systemische oder Lungenembolie oder kardiovaskulärer Tod mit Antikoagulation seltener auf als ohne (3,9 Prozent gegenüber 5,0 Prozent pro Patientenjahr in NOAH – AFNET 6 und 3,2 Prozent gegenüber 4,4 Prozent pro Patientenjahr in ARTESiA). Ohne Gefäßerkrankung waren die Ergebnisse mit und ohne Antikoagulation gleich (2,7 Prozent pro Patientenjahr in NOAH – AFNET 6 und 2,3 Prozent pro Patientenjahr in ARTESiA in beiden Gruppen). Die Meta-Analyse ergab übereinstimmende Ergebnisse für beide Studien.

Die Antikoagulation führte zu einer vergleichbaren Zunahme schwerer Blutungen bei Patient:innen mit Gefäßerkrankungen (Edoxaban 2,1 Prozent pro Patientenjahr; keine Antikoagulation 1,3 Prozent pro Patientenjahr; Apixaban 1,7 Prozent pro Patientenjahr; keine Antikoagulation 1,1 Prozent pro Patientenjahr) und bei Patient:innen ohne Gefäßerkrankungen (Edoxaban 2,2 Prozent pro Patientenjahr; keine Antikoagulation 0,6 Prozent pro Patientenjahr; Apixaban 1,4 Prozent pro Patientenjahr; keine Antikoagulation 1,1 Prozent pro Patientenjahr).

Der Vorstandsvorsitzende des AFNET Prof. Paulus Kirchhof, UKE, wissenschaftlicher Leiter der NOAH – AFNET 6 Studie und, schlussfolgert: „Diese kombinierte NOAH – AFNET 6 und ARTESiA Subanalyse deutet darauf hin, dass die Antikoagulation unterschiedlich wirkt, je nachdem ob zusätzlich zum Device-detektierten Vorhofflimmern eine Gefäßerkrankung vorliegt oder nicht. In der Hochrisiko-Untergruppe der Patient:innen mit Device-detektiertem Vorhofflimmern und Gefäßerkrankungen scheint eine Antikoagulation thromboembolische Ereignisse stärker zu reduzieren als bei Patient:innen ohne Gefäßerkrankungen. Diese Daten können die gemeinsame klinische Entscheidungsfindung zur Antikoagulations-Therapie bei Patient:innen mit Device-detektiertem Vorhofflimmern unterstützen.“

Publikationen

(1) Kirchhof P, Toennis T, Goette A, et al. Anticoagulation with Edoxaban in Patients with Atrial High-Rate Episodes. N Engl J Med 2023; 389:1167-1179. DOI: 10.1056/NEJMoa2303062.
(2) Healey JS, Lopes RD, Granger CB et al. Apixaban for Stroke Prevention in Subclinical Atrial Fibrillation. N Engl J Med 2024; 390:107-117. DOI: 10.1056/NEJMoa2310234.
(3) Schnabel R et al. Anticoagulation in patients with device-detected atrial fibrillation with and without concomitant vascular disease – A combined secondary analysis of the NOAH-AFNET 6 and ARTESiA trials. Eur Heart J, accepted. DOI: 10.1093/eurheartj/ehae596
(4) Toennis T, Bertaglia E, Brandes A, et al. The influence of Atrial High Rate Episodes on Stroke and Cardiovascular Death - An update. Europace. 2023 Jul 4;25(7). DOI: 10.1093/europace/euad166.
(5) Becher N, Toennis T, Bertaglia E, et al. Anticoagulation with edoxaban in patients with long Atrial High-Rate Episodes ≥24 hours. Eur Heart J. 2024 Mar 7;45(10):837-849. DOI: 10.1093/eurheartj/ehad771
(6) Lip YH, Nikorowitsch J, Sehner S et al. Oral anticoagulation in device-detected atrial fibrillation: effects of age, sex, cardiovascular comorbidities, and kidney function on outcomes in the NOAH-AFNET 6 trial. Eur Heart J. 2024 April 9. DOI: 10.1093/eurheartj/ehae225
(7) Diener HC, Becher N, Sehner S, Toennis T et al. Anticoagulation in patients with device-detected atrial fibrillation with and without a prior stroke or transient ischemic attack. The NOAH-AFNET 6 trial. JAHA, in press.
(8) McIntyre WF, Benz AP, Becher N, et al. Direct Oral Anticoagulants for Stroke Prevention in Patients with Device-Detected Atrial Fibrillation: A Study-Level Meta-Analysis of the NOAH-AFNET 6 and ARTESiA Trials. Circulation. 2023. DOI: 10.1161/CIRCULATIONAHA.123.067512

Kompetenznetz Vorhofflimmern e.V. (AFNET)

Das Kompetenznetz Vorhofflimmern e.V. (AFNET) ist ein interdisziplinäres Forschungsnetz, in dem Wissenschaftler:innen und Ärzt:innen aus Kliniken und Praxen deutschlandweit zusammenarbeiten. Ziel des Netzwerks ist es, die Behandlung und Versorgung von Patient:innen mit Vorhofflimmern in Deutschland, Europa und weltweit durch koordinierte Forschung zu verbessern. Dazu führt das Kompetenznetz Vorhofflimmern e.V. wissenschaftsinitiierte, nicht-kommerzielle, klinische Studien (investigator initiated trials = IIT) und Register auf nationaler und internationaler Ebene sowie translationale Forschungsprojekte durch. Der Verein ist aus dem vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderten Kompetenznetz Vorhofflimmern hervorgegangen. Seit Januar 2015 werden einzelne Projekte und Infrastrukturen des AFNET vom Deutschen Zentrum für Herz-Kreislauf-Forschung (DZHK) sowie einige Projekte aus EU-Forschungsmitteln gefördert. Das AFNET verfügt über langjährige Erfahrung in der Behandlung von Vorhofflimmern, unterstützt aber auch Forschungsarbeiten in anderen Bereichen, die für die kardiovaskuläre Versorgung relevant sind. Die Erkenntnisse aus der mittlerweile 20jährigen klinischen und translationalen Forschung des Forschungsnetzes haben das Leben von Patient:innen mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen verbessert und Behandlungsleitlinien beeinflusst.

Finanzielle Unterstützung der NOAH – AFNET 6 Studie: AFNET, DZHK, Daiichi Sankyo

Registrierung: NCT 02618577, ISRCTN 17309850

Kompetenznetz Vorhofflimmern e.V. (AFNET)
Mendelstraße 11
48149 Münster
Tel.: 0251 9801330
info@kompetenznetz-vorhofflimmern.de

MaAB - Fortbildungen:
Dr. Angelika Leute
Tel: 0202 2623395
a.leute@t-online.de

Originalpublikation:
Schnabel R et al. Anticoagulation in patients with device-detected atrial fibrillation with and without concomitant vascular disease – A combined secondary analysis of the NOAH-AFNET 6 and ARTESiA trials. Eur Heart J, accepted.
DOI: 10.1093/eurheartj/ehae596
Weitere Informationen finden Sie unter
http://www.kompetenznetz-vorhofflimmern.de

Morbus Parkinson

 

Sensationelle Beobachtung: Einfache modifizierte Aminosäure stoppte das Auftreten der Parkinson-Krankheit im Vorstadium

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Eine internationale Arbeitsgruppe unter der Federführung der Klinik für Neurologie am Universitätsklinikum Marburg (Prof. Wolfgang Oertel) in Kooperation mit der Klinik für Neurologie an der LMU München (Prof. Michael Strupp) publizierte heute zwei beeindruckende Patientenfälle: Die Therapie mit der modifizierten Aminosäure Acetyl-DL-Leucin konnte in beiden Fällen in einem Vorstadium der Parkinson-Krankheit das Fortschreiten über 22 Monate unterbinden, einige Krankheitsmarker besserten sich sogar. Es handelt sich um erste Beobachtungen, die keinen Anspruch auf hohe Evidenz haben. Die Ergebnisse sind aber so eindrucksvoll, dass zügig klinische Studien folgen werden.


Heute wurde in der renommierten Fachzeitschrift „Nature Communications“ eine Arbeit von Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen aus Marburg, München, Groningen, Amsterdam und Chicago veröffentlicht, die auch international für großes Aufsehen sorgen wird. Beschrieben werden dort zwei Fallberichte, in denen die modifizierte Aminosäure Acetyl-DL-Leucin erfolgreich das Auftreten einer manifesten Parkinson-Krankheit verhinderte. Wesentliche Krankheitsmarker gingen nach Gabe von Acetyl-DL-Leucin (ADLL) zurück. „Das ist so ungewöhnlich, das habe ich während meines ganzen bisherigen ärztlichen Berufs- und Forscherlebens noch nicht gesehen“, erklärte Prof. Dr. Wolfgang Oertel, Leiter der Studie, Parkinson-Experte und Hertie Senior Forschungsprofessor am Universitätsklinikum Marburg.

Zwei Personen (eine weiblich, eine männlich) mit einer isolierter REM-Schlafverhaltensstörung (iRBD) wurden 22 Monate lang mit 5 g ADLL pro Tag behandelt. Die Traum-Schlafstörung iRBD gilt als Vorläufer einer Parkinson-Krankheit. Wer an einer iRBD leidet, hat ein Risiko von mehr als 85 Prozent (und damit ein 130-fach höheres Risiko), in den folgenden 10 bis 15 Jahren an der Parkinson-Krankheit oder einer Lewy-Körperchen-Demenz (einer Variante der Parkinson-Krankheit) zu erkranken. Nur etwa 15 Prozent der von iRBD Betroffenen entwickeln diese neurodegenerativen Erkrankungen nicht. In der Wissenschaft gilt daher die iRBD als Frühsymptom (prodromales Zeichen) der Parkinson-Krankheit. „Dass die beiden Betroffenen wahrscheinlich nicht zu den 15 Prozent der ‚Glücklichen‘ gehörten, die dieses Schicksal nicht ereilt hätte, wissen wir aus den Voruntersuchungen: Die Dopamin-Transporter SPECT („Single Photon Emission Computerized Tomography“)-Untersuchung zeigte bei beiden bereits eindeutig vor der Behandlung mit ADLL einen pathologischen Befund. Auch litten beide schon unter einer Riechstörung (Anosmie), einem weiteren Parkinson-Frühsymptom“, erläutert Prof. Dr. Lars Timmermann, Direktor der Neurologie an der Uniklinik Marburg und Ko-Autor der Studie. „Das wirklich Eindrucksvolle an den beiden Fallberichten ist, dass die neurodegenerativen Veränderungen hin zu einer klinisch manifesten Parkinson-Krankheit nicht nur verlangsamt werden konnten, sondern dass sich die Krankheitszeichen in der Bildgebung unter der Behandlung sogar zurückbildeten“, ergänzt Dr. Annette Janzen, Ko-Autorin und Oberärztin an der Marburger Klinik. Und Prof. Dr. Michael Strupp, Senior-Autor der Publikation, von der Klinik für Neurologie der LMU München betont: „Das leistet bisher noch kein einziger Therapieansatz. Und wir reden hier über eine einfache und gut verträgliche modifizierte Aminosäure. Seit geraumer Zeit weiß man, dass Acetyl-L-Leucin auch bei anderen neurodegenerativen Krankheiten wie z. B. der Niemann-Pick-Krankheit Typ C, einer Erkrankung des lysosomalen Systems, einen günstigen Effekt besitzt. Und diesen Befund konnten wir kürzlich in einer Phase-3 Studie bestätigen [2].“

Folgende drei Kriterien wurden in der aktuellen Publikation, untersucht: 1) der Schweregrad der REM-Schlafverhaltensstörung (RBD-SS-3), 2) die Dopamin-Transporter-Einzelphotonen-Emissions-Computertomographie (DAT-SPECT als Maß für den Verlust der dopaminergen Fasern von der Substantia nigra zum Streifenkörper) und 3) der metabolische „Parkinson’s Disease-related-Pattern (PDRP)“-z-Score in der 18F-Fluorodesoxyglucose-Positronen-Emissions-Tomographie (FDG-PET – als Maß für Parkinson-typische pathologische Hirnaktivität). Bereits nach drei Wochen der Behandlung sank der RBD-SS-3-Wert bei beiden Studienteilnehmenden deutlich ab und blieb über die 18 Monate der ADLL-Behandlung reduziert. Bei Patientin 1 war die sog. DAT-SPECT Putaminal Binding Ratio (PBR) in den fünf Jahren vor der Behandlung von normal (1,88) auf pathologisch (1,22) gesunken und der FDG-PET-PDRP-z-Score von 1,72 auf einen krankhaften Wert von 3,28 gestiegen. Nach 22 Monaten ADLL-Behandlung verbesserte sich der DAT-SPECT-PBR auf 1,67 als Hinweis auf Erholung des dopaminergen Systems und der FDG-PET-PDRP-z-Score lag bei 3,18 als Zeichen der Stabilisierung der Hirnaktivität. Ähnliche Ergebnisse wurden bei Patient 2 beobachtet: Sein DAT-SPECT-PBR stieg von einem Vorbehandlungswert von 1,42 auf einen fast normalen Wert von 1,72 und der FDG-PET-PDRP-z-Score sank nach 18 Monaten ADLL-Behandlung von 1,02 auf 0,30 als Zeichen des Rückgangs der Parkinson-typischen pathologischen Hirnaktivität.

Wie wirkt Acetyl-Leucin ?
Zu den Wirkmechanismen von Acetyl-DL-Leucin gehören zwei Effekte: 1) auf das lysosomale System und 2) auf die „Zellatmung“, also den Energiestoffwechsel der Zellen. In jeder Zelle wird aus der mit der Nahrung zugeführten Substanz Glukose in Anwesenheit von Sauerstoff in den Mitchondrien (den „Zellkraftwerken“) der entscheidende Energieträger der Zelle, das Adenosin-Tri-Phosphat (ATP), hergestellt. Ohne ausreichende Mengen von ATP können Zellfunktionen nicht aufrechterhalten werden. Wie eine biochemische Arbeit zeigt, erhöht Acetyl-L-Leucin die Produktion von ATP [3]. Störungen des lysosomalen Systems sind bei der Parkinson-Krankheit im Gehirn beschrieben und jüngste Ergebnisse der Ko-Autoren Dr. Geibl und Dr. Henrich [4] in einem Mausmodell des prodromalen Stadiums der Parkinson-Krankheit zeigen, dass im Frühstadium sowohl der Energiehaushalt als auch die lysosomale Funktion in den geschädigten dopaminergen Neuronen stark beeinträchtigt ist. Das ist umso mehr ein Grund, Acetyl-DL-Leucin mit seinem dualen Wirkmechanismus bei Patientinnen und Patienten mit isolierter REM-Schlafverhaltensstörung einzusetzen.

Bei den beiden iRBD-Patienten kam das Medikament Acetyl-DL-Leucin zum Einsatz. Chemisch liegt Acetyl-Leucin in zwei Formen vor: als Acetyl-D-Leucin (D steht für „das Licht nach rechts drehend“) und als Acetyl-L-Leucin (L-steht für „das Licht nach links drehend“). Die Mischung von beiden Formen, von Acetyl-D-Leucin und Acetyl-L-Leucin, wird als Acetyl-DL-Leucin (ADLL) bezeichnet. Und nur diese Mischung ADLL stand für den individuellen OFF-Label Einsatz (Heilversuch) bei den oben beschriebenen zwei Patienten mit iRBD als Medikament zur Verfügung. Aus der Grundlagenforschung an Tiermodellen gibt es aktuelle Hinweise, dass von dem Gemisch ADLL nur die L-Form, also Acetyl-L-Leucin, wirksam ist. Zukünftige Studien werden demnach vorzugsweise mit Acetyl-L-Leucin [2] durchgeführt werden.

Was sind die Schlussfolgerungen? „Wir sehen Hinweise dafür, dass Acetyl-DL-Leucin das Fortschreiten der Erkrankung verhindern kann. Die Parkinson-typischen Muster in der Bildgebung sind sogar reversibel – und es scheint: je besser die Ausgangswerte oder je leichter ausgeprägt die Krankheitswerte zu Behandlungsbeginn, desto effektiver ist möglicherweise die Therapie. Wir müssen betonen, dass es sich bisher nur um zwei Patientenbeschreibungen handelt, mit allen Limitationen wie Nicht-Verblindung, fehlende Placebogruppe etc. Randomisierte Placebo-kontrollierte Langzeitstudien sind in Planung. Was uns optimistisch stimmt und besonders fasziniert, sind die Bildgebungsdaten, da die Verbesserung der Hirnpathologie nicht mit einem Placebo-Effekt erklärt werden kann“, erläutert Prof. Oertel.

Viele Errungenschaften in der Medizin gehen auf Zufallsbeobachtungen zurück, wie z. B. die Entdeckung des Penicillins. Bestätigen große klinische Studien das, was hier an zwei Patienten beobachtet werden konnte, nämlich dass Acetyl-DL-Leucin eine beginnende Parkinson-Krankheit zum Stillstand bringen kann, stellt diese Entdeckung einen bedeutsamen Meilenstein in der Medizingeschichte dar. „Bis dahin ist es allerdings noch ein weiter Weg und wir müssen bei aller Euphorie besonnen bleiben und möglichst schnell kontrollierte Studien auflegen, die evidenzgebend sind“, mahnt Prof. Dr. Peter Berlit, Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Neurologie.

Das Projekt wurde vom ParkinsonFonds Deutschland, der Stichting ParkinsonFonds, Niederlande, sowie über die Hertie-Senior-Forschungsprofessur von Prof. Oertel gefördert.

[1] Oertel, W.H., Janzen, A., Henrich, M.T. et al. Acetyl-DL-leucine in two individuals with REM sleep behavior disorder improves symptoms, reverses loss of striatal dopamine-transporter binding and stabilizes pathological metabolic brain pattern—case reports. Nat Commun 15, 7619 (2024). https://doi.org/10.1038/s41467-024-51502-7
[2] Bremova-Ertl T, Ramaswami U, Brands M, Foltan T, Gautschi M, Gissen P, Gowing F, Hahn A, Jones S, Kay R, Kolnikova M, Arash-Kaps L, Marquardt T, Mengel E, Park JH, Reichmannova S, Schneider SA, Sivananthan S, Walterfang M, Wibawa P, Strupp M, Martakis K. Trial of N-Acetyl-l-Leucine in Niemann-Pick Disease Type C. N Engl J Med. 2024;390(5):421-43 https://www.nejm.org/doi/10.1056/NEJMoa2310151
[3] Kaya E, Smith DA, Smith C, Morris L, Bremova-Ertl T, Cortina-Borja M, Fineran P, Morten KJ, Poulton J, Boland B, Spencer J, Strupp M, Platt FM. Acetyl-leucine slows disease progression in lysosomal storage disorders. Brain Commun. 2020 Dec 20;3(1):fcaa148. doi: 10.1093/braincomms/fcaa148. PMID: 33738443; PMCID: PMC7954382.
[4] Geibl FF, Henrich MT, Xie Z, E, Tkatch T, Wokosin DL, Nasiri E, Grotmann CA, Dawson VL, Dawson TM, Chandel NS, Oertel WH, Surmeier DJ. α-Synuclein pathology disrupts mitochondrial function in dopaminergic and cholinergic neurons at-risk in Parkinson's disease. bioRxiv [Preprint]. 2023 Dec 11:2023.12.11.571045. doi: 10.1101/2023.12.11.571045. PMID: 38168401