Prof. Dr. Peter Loskill: weißes, braun/beiges und rosa Fettgewebe

Medizin am Abend Berlin - MaAB-Fazit: Adipositas-on-Chip – innovatives Modellsystem zur Erforschung von Fettleibigkeit

Adipositas kommt selten allein. 

Die krankhafte Fettleibigkeit geht oftmals einher mit Erkrankungen wie Diabetes. 

  • Speziell das weiße Fettgewebe spielt bei der Entstehung der Stoffwechselerkrankung eine zentrale Rolle. 

Forschende des NMI Naturwissenschaftlichen und Medizinischen Instituts in Reutlingen entwickelten nun in Kooperation mit der Medizinischen Fakultät der Universität Tübingen und dem Fraunhofer-Institut IGB ein innovatives Mix & Match Organ-on-Chip-Modell. 

Die in der Fachzeitschrift Advanced Science veröffentlichten Forschungsergebnisse zeigen, wie sich mit dem Chip verschiedenste Aspekte der Adipositas-Erkrankung individuell simulieren lassen – ganze ohne Tierversuche. 

 Organ-on-Chip-System: Der neue Adipositas-on-Chip der Arbeitsgruppe um Prof. Dr. Peter Loskill vom NMI in Reutlingen bildet das weiße Fettgewebe im Mikrometermaßstab ab und integriert erstmals verschiedene Zellkomponenten in einem Chip-System.

 Organ-on-Chip-System: Der neue Adipositas-on-Chip der Arbeitsgruppe um Prof. Dr. Peter Loskill vom NMI in Reutlingen bildet das weiße Fettgewebe im Mikrometermaßstab ab und integriert erstmals verschiedene Zellkomponenten in einem Chip-System.

  • Von der ersten Sekunde bis etwa zum 25. Lebensjahr – in dieser Zeitspanne nimmt ein Mensch an Gewicht zu, entwickelt sich und wächst, bis er schließlich sein endgültiges Körpergewicht erreicht hat. 
  • Dabei weiß unser Körper stets, wann unser Hunger gestillt ist und alle notwendigen Stoffe aufgenommen wurden. 

Als Folge tritt ein Sättigungsgefühl ein. 

Fehlt dieses Signal oder wird es ignoriert, ist der Weg geebnet für eine sich entwickelnde Adipositas. 

Nicht selten steckt aber auch eine Fehlernährung hinter der krankhaften Fettleibigkeit. 

Grundsätzlich ist die krankhafte Gewichtszunahme Risikofaktor für eine Vielzahl von Erkrankungen. 

  • Neben Diabetes mellitus Typ 2, Herz-Kreislauf- und neurologischen Erkrankungen begünstigt eine Adipositas mindestens 13 verschiedene Krebsarten. 

Die Folgen von Adipositas können gravierend sein und sind deshalb ein nicht nur aktuelles, sondern auch sehr wichtiges Forschungsgebiet.

Ein Blick ins Fettgewebe

Fettgewebe lässt sich in verschiedene Typen unterteilen, weißes, braun/beiges und rosa Fettgewebe. 

Neben der Farbe unterscheiden sich die Gewebearten durch ihre einzigartige Zellzusammensetzung und Funktion. 

Schaut man sich die Bestandteile des weißen Fettgewebes genauer an, so lassen sich hier die Spezialisten des Fettstoffwechsels, die weißen Fettzellen, finden. 

  • Sie kümmern sich um Fetteinlagerungen – also die Energiereserven – und beeinflussen den Energiestoffwechsel durch Hormonausschüttungen. 
  • Des Weiteren lassen sich im weißen Fettgewebe eine Vielzahl von Immunzellen finden. 
  • Kommt es zu einer Überernährung, vermehren sich die Fettzellen, werden größer und lösen eine Kaskade von Entzündungsprozessen aus.


Fettgewebe in der Forschung

Die Wissenschaft beschäftigt sich seit geraumer Zeit mit Ursachen und Therapiemöglichkeiten von Adipositas, eine optimale Versuchsplattform mit einer validen Vorhersagekraft wurde bislang nicht entwickelt. Gesundheitsrisiken für Patient*innen machen die direkte Forschung am Menschen unmöglich. 

Viele Wissenschaftler*innen vertrauten demnach auf Tierversuche, um die pathophysiologischen Mechanismen hinter der Krankheit besser zu verstehen. Die geringe Übertragbarkeit der Ergebnisse vom Tier auf den Menschen schränkt allerdings die Aussagekraft der Tierversuche stark ein.
Es bleibt der Blick in die Petrischale. Welche Möglichkeiten bieten Zellkulturen?

Die Arbeitsgruppe um Prof. Dr. Peter Loskill, Gruppenleiter am NMI und Brückenprofessor an der Medizinischen Fakultät der Universität Tübingen, der von 2016 bis 2021 die Attract-Gruppe Organ-on-a-Chip am Fraunhofer IGB leitete, entwickelt maßgeschneiderte Organ-on-Chip-Technologien. Diese speziellen Chips integrieren lebende Substrukturen von Organen in eine kontrollierte Mikroumgebung. Die Chips bestehen aus kleinen dreidimensionalen Kammern und Kanälen im Mikrometermaßstab und bilden die Funktionalität oder Krankheit eines Organs ab. Erste Systeme der Arbeitsgruppe konnten lediglich Fettzellen kultivieren. Das neue innovative Mix & Match System integriert darüber hinaus alle wichtigen zellulären Komponenten, die sich auch im menschlichen weißen Fettgewebe wiederfinden lassen. 

Der Adipositas-Chip der nächsten Generation zeichnet sich durch seine hohe Flexibilität und Modularität aus. Neben der Energiespeicherung und -mobilisierung lassen sich mit dem Chip ebenso die fettgewebsspezifische Hormonausschüttung simulieren und verschiedenste Entzündungsprozesse mit einbeziehen. Dieser multidimensionale Ansatz ist bislang einzigartig!“, betont Prof. Loskill. 

Zukünftig bietet das neuartige System Wissenschaftler*innen eine humane Alternative zur Durchführung von Tierversuchen. Dadurch könnte nicht nur die Fettstoffwechsel-Forschung und die Medikamentenentwicklung von der neuen Testplattform profitieren, sondern auch die personalisierte Medizin vorangetrieben werden.

Die Forschung wurde unter anderem gefördert durch die Fraunhofer-internen Programme Talenta Start und Attract (601543), durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF; 031L0247B) sowie durch das Forschungs- und Innovationsprogramm Horizon 2020 der Europäischen Unionim Rahmen der Marie Skłodowska-Curie-Finanzhilfevereinbarungen Nr. 812954 und Nr. 845147.

Publikation:
Rogal et al. (2022). Autologous human immunocompetent white adipose tissue-on-chip. Advanced Science, 2104451, https://doi.org/10.1002/advs.202104451

Über das NMI
Das NMI Naturwissenschaftliche und Medizinische Institut in Reutlingen ist eine außeruniversitäre Forschungseinrichtung und betreibt anwendungsorientierte Forschung an der Schnittstelle von Bio- und Materialwissenschaften. Es verfügt über ein einmaliges, interdisziplinäres Kompetenzspektrum für F&E- sowie Dienstleistungsangebote für regional und international tätige Unternehmen. Dabei richtet sich das Institut gleichermaßen an die Gesundheitswirtschaft sowie Industriebranchen mit werkstofftechnischen und qualitätsorientierten Fragestellungen wie Fahrzeug-, Maschinen- und Werkzeugbau.

Das Forschungsinstitut gliedert sich in drei Geschäftsbereiche, die durch ein gemeinsames Leitbild miteinander verbunden sind: Die Suche nach technischen Lösungen erfolgt stets nach höchsten wissenschaftlichen Standards. Im Geschäftsfeld Pharma und Biotech unterstützt das NMI die Entwicklung neuer Medikamente mit biochemischen, molekular- und zellbiologischen Methoden. Der Bereich Biomedizin und Materialwissenschaften erforscht und entwickelt Zukunftstechnologien wie die personalisierte Medizin und Mikromedizin für neue diagnostische und therapeutische Ansätze. Im Fokus des Dienstleistungsangebotes steht für Kunden die Strukturierung und Funktionalisierung von Werkstoffen und deren Oberflächen. Im Geschäftsfeld Analytik und Elektronenmikroskopie werden analytische Fragestellungen beantwortet.

Über die Landesgrenzen hinaus ist das NMI für sein Inkubatorkonzept für Existenzgründer mit bio- und materialwissenschaftlichem Hintergrund bekannt.
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Das NMI Naturwissenschaftliche und Medizinische Institut in Reutlingen wird vom Ministerium für Wirtschaft, Arbeit und Tourismus des Landes Baden-Württemberg unterstützt und ist Mitglied der Innovationsallianz Baden-Württemberg, einem Zusammenschluss von 12 außeruniversitären und wirtschaftsnahen Forschungsinstituten.
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Originalpublikation:

Rogal et al. (2022). Autologous human immunocompetent white adipose tissue-on-chip. Advanced Science, 2104451, https://doi.org/10.1002/advs.202104451


Zum Sonntag, 01. Mai 2022: Die Alterkriminalität der ab 60 Jährigen - Gerontokriminologische Handlungsbedarfe

Medizin am Abend Berlin - MaAB-Fazit: Alterskriminalität: Wenn Senioren straffällig werden

Alterskriminalität ist eine ernste Herausforderung, vielschichtiger als angenommen und wenig untersucht. 

Das Phänomen der Devianz im Alter, also des regelabweichenden Verhaltens von Senioren, wirft viele Fragen auf, denen eine Forschungsgruppe um HM-Professor Stefan Pohlmann nachging. 

Dass ältere Menschen vor Gericht stehen, ist nicht neu. Doch was sind typische Verstöße von Senioren? Eine Forschungsgruppe um HM-Professor Stefan Pohlmann ging dieser Frage nach Dass ältere Menschen vor Gericht stehen, ist nicht neu. Doch was sind typische Verstöße von Senioren? Eine Forschungsgruppe um HM-Professor Stefan Pohlmann ging dieser Frage nach Foto: PantherMedia

  • Als Alterskriminalität bezeichnet man gemeinhin alle Formen von Straftaten, die von Personen über 60 Jahren verübt werden oder die zu einem Strafprozess im höheren Alter führen. 
  • Hinzu kommen Fälle, die eine Haft im oder bis zum hohen Alter umfassen. 

In Wissenschaft und Praxis haben diese Themen bislang allenfalls marginale Beachtung gefunden. 

Dabei ist Alterskriminalität ein Phänomen mit steigender Tendenz

In Zukunft könnte – angesichts des Anstiegs der Zahl alter Menschen durch die zunehmende Lebenserwartung bei einem weitgehend aktiven Lebensstil und dem gleichzeitigen Rückgang der Geburtenraten – die Zahl krimineller Senioren jene der Heranwachsenden übertreffen. Noch ist ein solcher Trend allerdings nicht erreicht.

Typische Verstöße der Altersgruppe 60plus
Dass ältere Menschen vor Gericht stehen, ist nicht neu. Beispielsweise lassen sich hierzu Prozesse zur NS-Aufarbeitung oder zu Kriegsverbrechen verfolgen, in jüngerer Zeit auch Fälle von Übergriffen im Rahmen von #MeToo sowie zum Missbrauchsskandal der katholischen und evangelischen Kirche. Doch das sind lediglich durch die Medien stark verbreitete Einzelfälle.

Was sind aber typische Verstöße dieser Altersgruppe? Das Forschungsteam um Prof. Dr. Stefan Pohlmann von der Fakultät für angewandte Sozialwissenschaften der Hochschule München untersuchte hierzu die Polizeiliche Kriminalstatistik. Für das Jahr 2019 ergaben sich deutschlandweit insgesamt um die 155.000 Tatverdächtige im Alter von 60 und mehr Jahren. Pohlmann führte dazu ergänzende Befragungen durch. 

  • Das Ergebnis: 
  • Die höchsten Zahlen an Tatverdächtigen gibt es im Bereich der Diebstahldelikte, es folgen Beleidigungen, leichte Körperverletzungen und Betrug.


Subjektive Tatmotive als Rechtfertigung
Zur Einschätzung krimineller Handlungen älterer Menschen ist es wesentlich, die zugrundeliegenden Tatmotive zu sondieren. Auf der Grundlage der Analyse von Dokumenten und mittels explorativer Befragungen älterer Strafgefangener identifizierte das Team um Pohlmann sieben subjektive Rechtfertigungskategorien: 

Darunter Langeweile und die damit verbundene Sehnsucht nach Spannung, Ablenkung und Nervenkitzel (thrill) sowie existenzielle Not oder die persönliche Angst vor einem sozialen Abstieg (affliction). 

Weitere Motive sind kognitive Veränderungen oder psychische Störungen (disorder), Rache und Selbstjustiz (revenge), unzureichende Einschätzung der Rechtswidrigkeit des eigenen Verhaltens (pseudo rationality) sowie die aktive Provokation einer Straftat, da die alltäglichen Lebensumstände gegenüber dem Strafvollzug weniger attraktiv ausfallen (active choice). 

Schließlich führt ein kriminelles Umfeld (environment) zu Straftaten. Betrachtet man die Heterogenität dieser Tatauslöser, lässt sich kein einzelner, universell gültiger Erklärungsansatz für Devianz im Alter geben. 

Was genau Straftäter im Alter antreibt, ist also höchst individuell.

Ältere Menschen in Haft
Ein besonderes Augenmerk schenkte die Forschungsgruppe den Anforderungen an die Vollzugsgestaltung. Denn die Tatsache, dass die Menschen in Deutschland immer älter werden, stellt auch den Justizvollzug vor Herausforderungen. So waren zum Stichtag des 30. September 2020 circa 620 Gefangene und Sicherungsverwahrte über 60 Jahren in bayerischen Justizvollzugsanstalten inhaftiert. Von einer weitgehenden Zentralisierung der älteren Gefangenen in einer einzigen Justizvollzugsanstalt sah Bayern im Interesse der Resozialisierung bislang ab.

Dafür werden gleichaltrig Inhaftierte häufig in Gemeinschaftsräumen untergebracht. Zudem wurden in verschiedenen Anstalten Anstrengungen unternommen, um körperlich beeinträchtigte Gefangene betreuen zu können – etwa mit einer eigenen Pflegeabteilung in der JVA Straubing oder einer geriatrischen Abteilung in der JVA Marktredwitz. Von einem steigenden Bedarf an diesen Angeboten wird ausgegangen. Daher ist es die Aufgabe der Landesjustizverwaltungen, im engen Austausch mit Wissenschaft und Praxis, die notwendigen Anpassungen auf den Weg zu bringen: Das betrifft eine ausreichende bauliche und personelle Ausstattung der Justizvollzugsanstalten sowie passende Behandlungskonzepte für ältere Inhaftierte, die laufend weiterzuentwickeln sind.

Gerontokriminologische Handlungsbedarfe
Bereits die typischen Verstöße, die Tatmotive und Haftbedingungen älterer Menschen zeigen: 

Die Fachdiskurse zur Alterskriminalität sind vielfältig und bisherige Theorien zur Kriminalität lassen sich nur bedingt auf die Kriminalität von Senioren anwenden. 

Woran es bezogen auf Alterskriminalität vor allem fehlt, sind hinreichende Präventionsansätze sowie schlüssige Resozialisierungsprogramme. 

Will man diesbezüglich Fortschritte erzielen, muss die Alterskriminalität im Sinne einer handlungsfähigen und zugleich alternden Gesellschaft weiter erforscht werden. 

Der neu erschienene Sammelband der Forschungs- und Praxisallianz um Pohlmann bietet Material und Argumente, um künftig neue Wege zu beschreiten.

Prof. Dr. Stefan Pohlmann
Stefan Pohlmann ist seit 2004 Professor für Gerontologie an der Hochschule München. Der habilitierte Psychologe leitet dort die Abteilung für interdisziplinäre Gerontologie und vertritt als Dekan die Interessen der Fakultät für angewandte Sozialwissenschaften.

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Prof. Dr. Stefan Pohlmann
E-Mail: stefan.pohlmann@hm.edu


Originalpublikation:

Stefan Pohlmann (Hrsg.) 2022: Alter und Devianz – Wenn alte Menschen straffällig werden. W. Kohlhammer, Stuttgart. 2022