Medizin am Abend Berlin - MaAB-Fazit: Bislang größte genetische Studie zur bipolaren Störung
Wie tragen genetische Faktoren zur Entstehung der bipolaren Störung bei?
Um mehr darüber herauszufinden, haben rund 320 Forschende rund um den Globus mehr als 40.000 Betroffene und 370.000 Kontrollen untersucht.
Die Federführung lag unter anderem bei der Icahn School of Medicine, New York, der Universität Oslo und dem Universitätsklinikum Bonn.
Die Studie erscheint in der Zeitschrift „Nature Genetics“.
Prof. Dr. Markus M. Nöthen (links) - und Jun.-Prof. Dr. Andreas
Forstner (rechts) vom Institut für Humangenetik des
Universitätsklinikums Bonn. Andreas Stein/UKB © Andreas Stein/UKB
- Genetische Faktoren tragen erheblich zur Entstehung der bipolaren Störung bei.
Nun ist die bislang wohl größte Analyse zu den beteiligten
Erbanlagen erschienen. Mehr als 40.000 Betroffene und 370.000 Kontrollen
wurden in die Untersuchung eingeschlossen; rund 320 Forschende rund um
den Globus waren beteiligt. Die Federführung der Arbeit lag unter
anderem bei der Icahn School of Medicine, New York, der Universität Oslo
und dem Universitätsklinikum Bonn. Die Ergebnisse liefern nicht nur
neue Hinweise auf die genetischen Grundlagen der Erkrankung, sondern
auch auf mögliche Risiko-Faktoren in Lebensumständen oder Verhalten. Sie
erscheinen in der Zeitschrift „Nature Genetics“.
Der Name „bipolare Störung“ kommt nicht von ungefähr:
- Bei den Betroffenen pendelt die Stimmung zwischen zwei Extremen. Mitunter sind sie wochenlang so niedergedrückt, dass sie es kaum schaffen, ihren täglichen Aktivitäten nachzugehen.
- Dann wieder gibt es Phasen, in denen sie sich euphorisiert und voller Energie fühlen und rastlos ihre Projekte verfolgen.
- In der Umgangssprache hat sich daher der Begriff „manische Depression“ eingebürgert. Rund ein Prozent aller Menschen erkranken im Laufe ihres Lebens.
- Der Leidensdruck, unter dem sie stehen, ist immens.
Als Risikofaktoren gelten frühkindliche traumatische Erfahrungen wie
Missbrauch oder der Verlust eines Elternteils, aber etwa auch ein
stressiger Lebensstil oder der Konsum bestimmter Drogen.
Zu einem überwiegenden Teil ist die bipolare Störung jedoch eine Frage der Gene:
Auf 60 bis 85 Prozent schätzen Experten den Beitrag der Erbanlagen.
Vermutlich sind Hunderte von Genen beteiligt. „Wir kennen davon bislang
aber nur einen kleinen Teil“, erklärt Jun.-Prof. Dr. Andreas Forstner.
Der Forscher, der kürzlich von der Universität Marburg auf eine
Juniorprofessur am Institut für Humangenetik der Universität Bonn und am
Institut für Neurowissenschaften und Medizin (INM-1) des
Forschungszentrums Jülich gewechselt ist, ist einer der leitenden
Autoren der aktuellen Studie.
DNA-Lexikon an Hunderttausenden von Stellen verglichen
Diese verbessert das Verständnis der genetischen Grundlagen erheblich.
Das internationale Konsortium durchforstete dazu die DNA der mehr als
400.000 Teilnehmer nach Auffälligkeiten. Der genetische Bauplan jedes
einzelnen Menschen gleicht einer Art riesigem Lexikon mit rund drei
Milliarden Buchstaben. Der Inhalt dieses DNA-Lexikons unterscheidet sich
von Person zu Person. Bei Menschen mit einer bipolaren Störung sollten
sich aber zumindest die Passagen ähneln, die etwas mit der Erkrankung zu
tun haben. Und diese Grundannahme machten sich die Wissenschaftler
zunutze: Indem sie die DNA ihrer Probanden an vielen hunderttausend in
der Bevölkerung variabel vorkommenden Stellen verglichen, konnten sie
Erbgut-Regionen identifizieren, die vermutlich zu der Erkrankung
beitragen.
„Wir haben auf diese Weise 64 Genorte gefunden, die mit der bipolaren
Störung in Verbindung stehen“, erklärt Prof. Dr. Markus Nöthen, Leiter
des Instituts für Humangenetik. „33 von ihnen waren bislang unbekannt.“
Damit liefern die Treffer auch Hinweise auf
neue Therapieansätze. So enthalten die in den identifizierten Regionen gelegenen Gene oft Bauanleitungen für sogenannte Ionen-Kanäle. Diese sind für die Entstehung elektrischer Pulse im Gehirn wichtig, der Aktionspotenziale.
Durch die Studie rücken insbesondere Kalziumkanäle in den Fokus der Forschung.
„Sie scheinen an der Entstehung der Krankheit beteiligt zu
sein“, erklärt Forstner. „Es gibt Medikamente, die die Funktion dieser
Kanäle beeinflussen, aber bislang nur für die Behandlung anderer
Krankheiten zugelassen sind. Vielleicht sind sie auch eine Option für
die Therapie der bipolaren Störung.“
Rauchen ein möglicher Risikofaktor
Die genetischen Daten erlauben es zudem, besser zwischen verschiedenen
Formen der Erkrankung zu differenzieren.
Denn bipolare Störung ist nicht gleich bipolare Störung:
Die Symptome und Verlaufsformen der Erkrankung können sehr unterschiedlich sein. „Wir rechnen damit, dass es bei der Krankheit verschiedene Subtypen gibt, die möglicherweise auch jeweils eine etwas andere Behandlung erfordern“, sagt Forstner.
- „Wir konnten zum Beispiel zeigen, dass eine häufig sehr schwer verlaufende Form der bipolaren Störung, Typ I genannt, auf genetischer Ebene stärker mit der Schizophrenie zusammenhängt.
- Eine etwas ,milder' verlaufende Variante - der Typ II - scheint dagegen eher mit der Depression verwandt zu sein.“
Die Wissenschaftler verglichen ihre Funde zudem mit den Ergebnissen von
Studien, die nach den genetischen Grundlagen bestimmter Verhaltensweisen
suchen. Dabei stießen sie auf interessante Zusammenhänge:
So scheint Rauchen das Risiko für eine bipolare Störung signifikant zu erhöhen.
Beim problematischen Alkoholkonsum legen die Analysen dagegen einen bidirektionalen Zusammenhang nahe:
Menschen mit einer Veranlagung für eine bipolare Störung trinken öfter; umgekehrt scheint dieses Verhalten auch ihre Erkrankungs-Wahrscheinlichkeit zu erhöhen.
„Wir raten aber bei der Interpretation dieser Befunde zur Vorsicht“, erklärt Forstner.
„Die
nachgewiesenen Zusammenhänge zwischen bestimmten Verhaltensweisen und
der bipolaren Störung müssen zunächst noch in weiteren, großen Studien
untersucht werden.“
Die Ergebnisse waren nur durch die Zusammenarbeit von rund 320
Forschenden in einem internationalen Konsortium (Psychiatric Genomics
Consortium) möglich. Neben den Bonner Wissenschaftlern beteiligten sich
als deutsch-schweizerischer Verbund unter anderem auch das
Zentralinstitut für Seelische Gesundheit Mannheim (Prof. Dr. Marcella
Rietschel), das Klinikum der Universität München (LMU, Prof. Dr. Thomas
G. Schulze) und das Universitätsspital Basel (Prof. Dr. Sven Cichon) an
den Analysen. Prof. Nöthen ist an der Universität Bonn Mitglied im
Transdisziplinären Forschungsbereich „Leben und Gesundheit“ sowie
Mitglied im Exzellenzcluster ImmunoSensation².
Förderung:
Die Studie wurde vom US-amerikanischen National Institute of Mental
Health und dem National Institute of Health sowie zahlreichen weiteren
Institutionen gefördert. In Deutschland flossen unter anderem Mittel der
DFG, des BMBF sowie der Dr. Lisa Oehler-Stiftung in das Projekt.
Jun.-Prof. Dr. Andreas Forstner
Universitätsklinikum Bonn
Institut für Humangenetik
Tel. +49-228-6885-412
E-Mail: forstner@uni-bonn.de
Prof. Dr. Markus M. Nöthen
Universitätsklinikum Bonn
Direktor des Instituts für Humangenetik
Tel. +49-228-28751100
E-Mail: markus.noethen@uni-bonn.de
Svenja Ronge Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn
Telefon: +49 251 83-22115
E-Mail-Adresse: sronge@uni-bonn.de
Poppelsdorfer Allee 49
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Dr. Andreas Archut
Telefon: 0228 / 73-7647
Fax: 0228 / 73-7451
E-Mail-Adresse: andreas.archut@uni-bonn.de
Originalpublikation:
Niamh Mullins, Andreas J. Forstner et al.: Genome-wide association study of more than 40,000 bipolar disorder cases provides new insights into the underlying biology. Nature Genetics, DOI: 10.1038/s41588-021-00857-4