Medizin am Abend Berlin Fazit: „Patienten mit Mangelernährung haben ein höheres Risiko zu sterben“
Wer sich ausgewogen ernährt, beeinflusst Wohlbefinden und
Abwehrkräfte.
Und beeinflusst im Krankheitsfall auch Dauer und Erfolg
von Therapien sowie Schwere und Häufigkeit von Komplikationen – was
gerade bei der Behandlung von betagten Patienten entscheidend sein kann.
Ein Faktor, der trotzdem im Klinikalltag oft übersehen wird, wie die
Deutsche Gesellschaft für Geriatrie (DGG) erkannt hat. Dabei sind bis zu
zwei Drittel der geriatrischen Patienten von einer Mangelernährung
betroffen.
Wie Mediziner ihren Blick schulen können, darüber sprechen im
Interview Ernährungswissenschaftlerin Mareike Maurmann und Dr. med.
Andreas Leischker, Chefarzt der Klinik für Geriatrie am Alexianer in
Krefeld.
Chefarzt Dr. Andreas Leischker, M. A.
Mangelernährung in Deutschland! Wie kann es das im Jahr 2016 geben?
Dr. Andreas Leischker: Eigentlich sollte es 2016 überhaupt keine
Mangelernährung mehr geben! Aber auch in den Industrieländern ist
Mangelernährung häufig.
Grundsätzlich sind alle Altersgruppen betroffen.
Bei älteren Menschen steigt die Prävalenz aber deutlich. Die Gründe
sind unterschiedlich: Häufig sind
körperliche und psychische
Erkrankungen die Ursache für einen verminderten Appetit.
Weitere Gründe
für eine
einseitige Lebensmittelauswahl und eine verringerte
Nahrungsaufnahme können soziale Aspekte, wie zum Beispiel der
Verlust
des Partners und die steigende Hilfsbedürftigkeit sein. Wir dürfen aber
auch nicht ausblenden, dass
auch die Altersarmut dazu führen kann, dass
älteren Menschen die finanziellen Mittel für eine gesunde Ernährung
fehlen.
Mareike Maurmann: Es sind auch körperliche Veränderungen im Alter wie
zum Beispiel
der Zahnverlust (eine lockere Prothese), ein
veränderter
Geruchs- und Geschmackssinn, Immobilität und Bewegungseinschränkungen,
die zu einer verringerten Nahrungsaufnahme führen können. Dazu kommen
Erkrankungen wie zum Beispiel ein
Schlaganfall mit Schluckstörung oder
solche, die den Gastrointestinaltrakt betreffen, vielleicht sogar ein
künstlicher Darmausgang.
All das kann zu Appetitlosigkeit,
Einschränkungen bei der Nahrungsaufnahme oder einer schlechten
Resorption führen.
- Bis die Mangelernährung so offensichtlich wird, dass
das Umfeld der Betroffenen aufmerksam wird, kann es ziemlich lange
dauern. Hier ist eine stärkere Aufklärung bei Angehörigen und Hausärzten
gefragt.
Warum ist es so wichtig, eine Mangelernährung zu erkennen?
Leischker:
Patienten mit Mangelernährung haben ein deutlich höheres
Risiko zu sterben oder schwere Komplikationen zu entwickeln. Die
Krankenhausverweildauer von mangelernährten Patienten ist deutlich
länger.
Durch eine gute Ernährungstherapie können Krankenhäuser also
nicht nur Todesfälle und Komplikationen vermeiden, sondern auch – durch
kürzere Verweildauern – Geld sparen.
- Leider hat sich diese Erkenntnis
bei den meisten Krankenhausleitungen bisher noch nicht durchgesetzt.
Eine ausgewogene Ernährung ist extrem wichtig für das Wohlbefinden
unserer Patienten.
Maurmann: Das sehe ich ähnlich.
Durch eine unbehandelte Mangelernährung
sinkt die Immunkompetenz, zudem verschlechtern sich der Allgemeinzustand
und die Prognose. Die psychische Verfassung und die Therapietoleranz
nehmen ab. Die Infektionsrate, -dauer und -schwere nehmen zu, auch die
Komplikationsrate und die Gefahr von Immobilität und Stürzen steigen.
- Außerdem kommt es häufiger zu Wundheilungsstörung.
Insgesamt nimmt also
die Pflege- und Hilfsbedürftigkeit des Patienten zu.
Die Mangelernährung
sollte also immer mit behandelt werden beziehungsweise muss viel
stärker in den Fokus von Ärzten und Therapeuten rücken.
Warum sind Ärzte und Kliniken nicht genügend sensibilisiert für das Thema? Was müsste hier verbessert werden?
Maurmann: Es gibt zum Glück einige Ärzte, die das Thema sehr ernst
nehmen.
Aber aus meiner Erfahrung ist die Mehrzahl der Mediziner leider
nicht für das Thema Mangelernährung sensibilisiert. Es gibt auch nur
wenige Kliniken, die Ernährungsfachkräfte in ausreichender Zahl
beschäftigen, die diese Patienten intensiv betreuen können, obwohl viele
Studien die Wirksamkeit einer solchen Therapie belegen. Für eine Klinik
ist die Einstellung
einer Ernährungsfachkraft, die die Schnittstelle
eines interdisziplinären
Teams aus Ärzten, Logopäden und den
Mitarbeitern der Diätküche, darstellen könnte, leider auch eine
Kostenfrage.
Die Diagnose Mangelernährung kann zwar abgerechnet werden,
wirkt sich in der Geriatrie aber nur in den wenigsten Fällen
schweregradsteigernd aus. Damit kann sich diese Stelle in der Geriatrie
nicht durch ihre Arbeit selbst finanzieren.
Die Behandlung muss mit den
Krankenkassen abgerechnet werden können, das heißt hier muss das Thema
Ernährungstherapie auch bei der Berechnung des Case Mix Index eine Rolle
spielen. Denn ich bin überzeugt, wenn die Kliniken adäquat Geld für
diese Therapie bekommen würden, stünden sie auch mehr im Fokus.
Leischker: Leider glauben auch viele Ärzte, alles über Ernährung zu
wissen – nach dem Motto: „Ich kann doch selbst gut essen.“
In der Tat
fehlt es diesen fast immer an grundsätzlichen Kenntnissen aus der
Ernährungsmedizin. Kein Wunder, im Medizinstudium ist das Thema noch
eindeutig unterrepräsentiert. Hier sind die Universitäten gefordert, die
Ernährungsmedizin in die Curricula zu verankern. In den Curricula der
Facharztweiterbildungen kommt dieser Komplex zwar vor, wird aber leider
oft in der Praxis vernachlässigt. Sinnvoll wäre es, wenn jede Klinik je
nach Größe eine Mindestzahl an Ärzten mit ernährungsmedizinischer
Zusatzqualifikation beschäftigen müsste. Diese könnten dann ihr Wissen
auch an die Assistenzärzte weitergeben.
Woran erkennen Sie, dass eine Person an Mangelernährung leidet?
Maurmann:
Bei der Mangelernährung muss zunächst zwischen einer
Unterernährung und einer Fehlernährung unterschieden werden.
- Bei der
Unterernährung kann der Patient seinen Energiebedarf nicht decken,
sodass es zu einer allgemeinen Unterversorgung kommt, die meist durch
einen Protein- und Energiemangel dominiert wird.
Durch den Energiemangel
kommt es recht schnell zu einem ungewollten Gewichtsverlust, der
besonders zu Lasten der Muskelmasse geht. Diese Patienten sind insgesamt
geschwächt, häufig antriebslos und müde.
Von einer Fehlernährung
wiederum können nicht nur untergewichtige, sondern auch normalgewichtige
und übergewichtige Patienten betroffen sein.
Diese wird meist von einer
sehr einseitigen Ernährung verursacht.
- Es gibt auffällige Symptome, die
von stumpfen Haaren und brüchigen Fingernägeln über Entzündungen von
Mundschleimhaut, Zahnfleisch und Lippen bis hin zu Hautblutungen und
schuppendem Hautauschlag reichen.
- Verwirrtheit oder eine periphere
Neuropathie können ebenfalls Hinweise für eine Fehlernährung sein.
In
der Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Ernährungsmedizin (DGEM)
für klinische Ernährung in der Geriatrie wurde 2013 schon darauf
hingewiesen, dass in Langzeitpflegeeinrichtungen und Krankenhäusern bis
zu zwei Drittel der geriatrischen Patienten von einer Mangelernährung
betroffen sind, sodass hier großer Handlungsbedarf besteht.
Leischker: Der Verdacht auf eine Mangelernährung ergibt sich für den
Erfahrenen häufig bereits aus dem ersten klinischen Eindruck:
dünne
Körperstatur, eingefallene Wangen... Bei einem Verdacht sollte zunächst
ein Screening auf Mangelernährung erfolgen.
Sehr gut validiert und
schnell durchführbar ist die Kurzform des Mini Nutritional Assessments
(MNA-SF).
-
Die Formulare hierfür sind in allen gängigen Sprachen kostenlos im
Internet verfügbar.
Das Screening kann von Ernährungsberatern,
Pflegepersonal oder Ärzten durchgeführt werden. Weitere gut validierte
Verfahren sind das
Nutritional Risk Screening („Kondrup-Score“) und die
„Langversion“ des MNA (siehe Links weiter unten).
Idealerweise sollte bei allen stationären Patienten und bei allen
Pflegeheimbewohnern ein Screening auf Mangelernährung erfolgen. Sofern
sich der Verdacht bestätigt, erfolgt ein ausführlicheres Assessment.
Wenn die Mangelernährung erkannt ist, wie geht es weiter?
Leischker: Zunächst gilt es, leicht identifizierbare Ursachen in Angriff
zu nehmen – dies reicht von der Anpassung
eines neuen Zahnersatzes bis
zur Therapie einer Depression. Unabhängig von der Ursache erfolgt immer
eine Ernährungsberatung.
- Dazu gehört die Gabe energiedichter Kost sowie
die Anreicherung der Nahrung mit Sahne, Proteinen und anderen
hochkalorigen Lebensmitteln. Ist dies nicht ausreichend, erfolgt die
Verordnung von Trinknahrung.
Maurmann: Eine richtig typische Therapie gibt es in der Geriatrie
eigentlich nicht, da jeder Patient andere Grunderkrankungen und
andere
Nährstoffdefizite mitbringt, die immer berücksichtigt werden müssen.
- Wenn die Diagnose einer Mangelernährung gestellt wurde, sollte so früh
wie möglich mit der Therapie begonnen werden, um einen weiteren Verlust
der Muskelmasse und ein größer werdendes Nährstoffdefizit zu verhindern.
Für die Therapie muss zunächst festgestellt werden, welche Form der
Mangelernährung vorliegt und wodurch der Mangel entstanden ist.
Wenn
keine Nebendiagnosen vorliegen, die einer spezielle Kostform bedürfen,
der Gastrointestinaltrakt voll funktionsfähig ist und keine
Schluckstörung vorliegt, wird bei einer Unterernährung zunächst die
Wunschkost mit dem Patienten besprochen und dann die Ernährung so
gestaltet, dass die Mahlzeiten den Kalorienbedarf decken können und alle
Nährstoffe in ausreichender Menge enthalten sind.
Zusätzlich werden
Zwischenmahlzeiten angeboten und Trinknahrung bereitgestellt.
Bei einem
spezifischen Nährstoffmangel werden vermehrt die Lebensmittel angeboten,
die diesen Nährstoff enthalten. Auch Nahrungsergänzungsmittel können
eingesetzt werden.
Der Kostaufbau sollte bei einer Mangelernährung immer
stufenweise erfolgen, da besonders bei Patienten, die mehrere Tage kaum
etwas zu sich genommen haben, die Gefahr des Refeeding-Syndroms
besteht.
- Das bedeutet: Wenn sie nach langer Zeit der Unterernährung zu
schnell normale Nahrungsmengen zu sich nehmen, kann es im Extremfall zu
lebensbedrohlichen Komplikationen kommen.
Was können Senioren tun, um Mangelernährung vorzubeugen?
Leischker:
Ausreichend und regelmäßig essen! Falls sie merken, dass sie
Gewicht verlieren, nicht nur einen Arzt, sondern gleichzeitig auch eine
Ernährungsberaterin aufsuchen.
Maurmann: Senioren sollten ein Auge auf sich und ihren Körper haben. Die
Mahlzeiten sollten vielfältig und ausgewogen sein, also von jedem
etwas. Bei Obst und Gemüse gilt: Bunt ist gesund. Wenn Lebensmittel
aufgrund von Kau- oder Schluckbeschwerden nicht mehr gegessen werden
können, sollte nach anderen Zubereitungsformen gesucht werden. Das
frische Obst kann zum Beispiel zu einem
Smoothie verarbeitet werden oder
die Kartoffeln zu Kartoffelpüree.
Auf die Risikonährstoffe wie Vitamin
B12 (zum Beispiel in Fleisch, Fisch, Eiern), Folsäure (zum Beispiel in
Hülsenfrüchten, grünem Blattgemüse, Leber, Nüssen), Calcium (zum
Beispiel in Milchprodukten, Grünkohl, verschiedenen Kräutern,
Mineralwasser) und Vitamin D (zum Beispiel in verschiedenen Fisch- und
Pilzsorten) sollte ein besonderes Augenmerk liegen, da diese Nährstoffe
im Alter durch verschiedene Erkrankungen häufig schlechter resorbiert
oder zu wenig aufgenommen werden.
Sollte die Ernährung mit Supplementen unterstützt werden?
Leischker: Bei einer gesunden, abwechselnden Ernährung sind keine
Supplemente erforderlich.
Höchstens strenge Veganer benötigen Vitamin B
12 und häufig Eisen. Auch bei einigen Erkrankungen ist die Zugabe von
Vitaminen und/oder Mineralstoffen erforderlich. Generell sollten
Supplemente nur nach Rücksprache mit einem Arzt oder einer
Ernährungsberaterin zur Anwendung kommen.
Denn Extra-Vitamine können
sogar das Krebsrisiko erhöhen!
Maurmann: Nahrungsergänzungsmittel und Supplemente sind tatsächlich nur
selten sinnvoll. Eine Ausnahme bildet hier meiner Meinung nach
allerdings
das Vitamin D, da es nicht in ausreichender Menge in der
Nahrung vorkommt und wir es nur mit Hilfe des Sonnenlichts in der Haut
synthetisieren können.
Im Winter sollte daher über eine Ergänzung der
Nahrung mit Vitamin D nachgedacht werden. Wenn möglich, ist die Aufnahme
der Nährstoffe über Lebensmittel immer den Supplementen vorzuziehen, da
durch das Zusammenspiel der vielen verschiedenen Inhaltsstoffe die
Bioverfügbarkeit der einzelnen Nährstoffe steigt. Der Körper profitiert
zusätzlich von der Vielfalt dieser Stoffe wie zum Beispiel den
sekundären Pflanzenstoffen in Obst und Gemüse.
Mareike Maurmann
Und wenn der Mensch einfach keine Lust aufs Essen hat?
Maurmann:
Appetitlosigkeit stellt ein schwer zu greifendes Problem dar.
- Die Ursachen für Appetitlosigkeit sind extrem vielfältig und reichen von
psychischem Stress, Sorgen und Ängsten über Schmerzen,
Verdauungsprobleme, Infektionen und so weiter bis hin zu den Neben- und
Wechselwirkungen der verschiedensten Medikamente.
In einer ausführlichen
Beratung sollte zunächst mit dem Patienten nach der Ursache der
Appetitlosigkeit gesucht werden.
Auch Gespräche mit einem Seelsorger
oder einem Mitarbeiter des Sozialdienstes können hilfreich sein, um die
Fragen der häuslichen Versorgung zu klären, die für die Patienten oft
sehr bedrückend sind.
- Das Absetzen oder Umstellen von Medikamenten oder
das Anpassen der Schmerztherapie sind weitere eventuell hilfreiche
Maßnahmen.
- Neben einer auf den Patienten abgestimmten Kostform, die auf
Verdauungsprobleme wie Obstipation, Blähungen oder Diarrhoen eingeht,
sollten auch die Gewohnheiten und Wünsche des Patienten berücksichtigt
werden.
- Einer Mangelernährung kann gegebenenfalls durch die Gabe von
Trinknahrung und Zwischenmahlzeiten vorgebeugt werden.
- Um nicht nur
gegen die Ursachen, sondern auch gegen die Appetitlosigkeit selbst etwas
zu tun, können zum Beispiel Gewürzpflanzen mit Bitterstoffen (zum
Beispiel Anis, Fenchel, Kümmel, Rosmarin) eingesetzt werden, die
appetitanregend und verdauungsfördernd wirken.
Manchen Patienten hilft
auch ein
kleiner Schluck Pepsinwein vor dem Essen, der die
appetitanregende Wirkung eines Aperitifs besitzt.
Die
ernährungstherapeutische Betreuung ist hier wichtig, um immer wieder mit
dem Patienten gemeinsam die Kostform anzupassen, verschiedene
Lebensmittel zu probieren und die Therapie zu evaluieren.
Leischker:
Und gerade ältere Menschen sollten in Gesellschaft essen.
- Studien zufolge wird dann bis zu 20 Prozent mehr Nahrung verzehrt.
Das
Essen sollte appetitlich angerichtet sein. Ab und zu sollten ältere
Menschen auch ein Restaurant besuchen – wegen der anderen Umgebung und
der Abwechslung.
- Aber auch viele Medikamente können Appetitlosigkeit
verursachen. Ihre Indikation sollte daher kritisch geprüft werden.
Medizin am Abend Berlin DirektKontakt
www.medizin-am-abend.blogspot.com
Über Google: Medizin am Abend Berlin
Nina Meckel
Deutsche Gesellschaft für Geriatrie (DGG)
Weitere Informationen für international Medizin am Abend Berlin Beteiligte
http://www.mna-elderly.com/forms/MNA_german.pdf – Langform des Mini Nutritional Assessments (MNA)
http://www.dgem.de/materialien.htm – Nutritional Risk Screening („Kondrup-Score“)
http://www.ernaehrung-maurmann.de – Praxis für Ernährungsberatung und -therapie, Mareike Maurmann
Anhang