In der Expertenrunde zur Gesundheitsversorgung der
Flüchtlinge erklärten auch Vertreter der Bundespsychotherapeutenkammer
(BPtK) und der Bundesweiten Arbeitsgemeinschaft Psychosozialer Zentren
für Flüchtlinge und Folteropfer (BAFF), die Zahl der tatsächlich akut
behandlungsbedürftigen Flüchtlinge sei erheblich niedriger anzusetzen,
als die Gesamtzahl der von traumatischen Erlebnissen betroffenen
Menschen.
Nach Angaben der Psychotherapeutenkammer haben viele
Kinder aus Syrien und Afrika Kriegs- und Gewalterfahrungen gemacht. Aber
nicht alle Betroffenen benötigten auch eine Akutbehandlung.
Posttraumatische Belastungsstörungen (PTBS) würden oft erst mit
Verzögerung deutlich, wenn Flüchtlinge aus den Erstaufnahmeeinrichtungen
heraus seien und in eigenen Wohnungen lebten. Hochgerechnet könnten
rund 60.000 Flüchtlinge behandlungsbedürftig sein. Das würde inklusive
Dolmetscher zu Kosten von rund 250 Millionen Euro führen.
Die
Experten waren sich einig, dass auch aus gesundheitspolitischer Sicht
die aktuelle Flüchtlingskrise eine enorme Herausforderung darstellt und
nannten neben der rein medizinischen und psychologischen Betreuung
kulturelle und sprachliche Besonderheiten. Die Experten begrüßten
einhellig die geplanten Gesetzesänderung, mit denen die
Gesundheitsversorgung der Flüchtlinge verbessert werden soll.
Nach Angaben der Experten werden Fälle von erlebter sexueller Gewalt in
Flüchtlingsfamilien oft verheimlicht. Hier gelte es, Vertrauen neu
aufzubauen und Sicherheit zu vermitteln. Dazu müsse auch Vertraulichkeit
gesichert sein. Dolmetscher müssten kulturell geschult sein, dann seien
sie eine wichtige Hilfe. Bei den Kindern sollte die psychosoziale
Betreuung bis in die Schulen hineinreichen. Hier sei eine gute
Vernetzung der Experten wichtig, denn manche Kinder hätten Extremes
erlebt.
Die psychosozialen Zentren wiesen darauf hin, dass die
zur Bewältigung der Flüchtlingskrise nötigen Strukturen noch nicht alle
geschaffen seien. Vor allem die ehrenamtlichen Helfer müssten besser und
effizienter eingebunden werden. Schon allein ein langes Lagerleben
könne zu fundamentalen Störungen und Persönlichkeitsveränderungen
führen. Viele Flüchtlinge wüssten auch gar nicht, dass ihre psychischen
Erkrankungen behandelt werden könnten. Um alle Betroffenen angemessen
behandeln zu können, müssten die Strukturen systematisch ausgebaut
werden.
Medizin am Abend Berlin Fazit: Wohnungen für Flüchtlinge
Die Flüchtlingskrise trifft
nach Ansicht von Sachverständigen auf einen ohnehin stark angespannten
Wohnungsmarkt und wird bereits seit Jahren bestehende Probleme weiter
verschärfen. In einem öffentlichen Fachgespräch im Ausschuss für Umwelt,
Naturschutz, Bauen und Reaktorsicherheit forderten die Experten daher
am Mittwoch, schnell bezahlbaren Wohnraum zu schaffen, um Asylbewerber
mit Aufenthaltsstatus dauerhaft unterbringen zu können. Gleichzeitig
betonten sie, dass wohnungsbaupolitische Maßnahmen nicht speziell
Flüchtlingen, sondern allen einkommensschwachen Mietergruppen
zugutekommen sollten.
Gesine Kort-Weiher von der
Bundesvereinigung der kommunalen Spitzenverbände wies darauf hin, dass
die Mehrzahl der Asylbewerber in prosperierenden Regionen bleiben werde,
in denen die Wohnungsnachfrage schon jetzt das Angebot deutlich
übersteige. Fördermittel müssten daher bevorzugt in diese
Wachstumsregionen fließen. Unter anderem sei es notwendig, zusätzliche
Anreize für den frei finanzierten Wohnungsbau zu schaffen.
Axel
Gedaschko vom Bundesverband deutscher Wohnungs- und
Immobilienunternehmen (GdW) warf Bund und Ländern vor, notwendige
Maßnahmen schon seit Jahren verschleppt zu haben. In der Folge müssten
nun über zehn Jahre hinweg jährlich mindestens 140.000 Wohnungen neu
gebaut werden, um den Bedarf decken zu können. Dies sei nur mit Hilfe
steuerlicher Förderungen und einer Senkung der hohen Baukosten in
Deutschland zu realisieren. Außerdem regte Gedaschko eine Änderung der
Musterbauverordnung an, um serielles und standardisiertes Bauen zu
ermöglichen.
Andreas Ibel vom Bundesverband Freier Immobilien-
und Wohnungsunternehmen (BFW) schätzte ausgehend von der
Asylgeschäftsstatistik für den Monat September, dass angesichts der zu
erwartenden hohen Anerkennungszahlen von Asylbewerbern der Bedarf an
dauerhaftem Wohnraum bereits Ende 2016 den Bedarf an temporären
Unterkünften übersteigen werde. Er forderte: "Das Bauen muss wieder
einfacher werden." Die Technik, die heute in vielen neuen Wohnungen zum
Einsatz komme, sei "hochkomplex, teurer und weniger lange haltbar".
Außerdem bezeichnete Ibel die befristete Aussetzung der
Energieeinsparverordnung (EnEV), mit der Energie in privaten Gebäuden
eingespart werden soll, als ein "Gebot der Stunde". Der
Mietwohnungsneubau spiele nur eine geringe Rolle beim Energieverbrauch
für Heizung und Warmwasser. Würden Flüchtlinge weiterhin in Zelten und
provisorischen Unterkünften untergebracht, stünde der dadurch
verursachte Ausstoß von Kohlendioxid (CO2) in keinem Verhältnis zu den
Einsparungen durch Einhaltung der EnEV.
Der Bundesdirektor des
Deutschen Mieterbundes e.V., Lukas Siebenkotten, betonte, bis der
"enorme Nachholbedarf" beim Wohnungsneubau aufgearbeitet sei, müssten
auch kurzfristige Maßnahmen ergriffen werden. "Dazu gehört, dass die
Beschlagnahme von leer stehenden Gewerbeimmobilien, aber auch von leer
stehendem Wohnraum, unumgänglich ist." So würden etwa in Berlin viele
Wohnungen als Ferienwohnungen zweckentfremdet. Sie sollten Menschen zur
Verfügung gestellt werden, "die es dringend nötig haben". Mietern von
städtischen Wohnungen sollte allerdings nicht gekündigt werden, um dort
Flüchtlinge unterzubringen. Dies sei nicht nur rechtlich unzulässig,
sondern auch "politisch verheerend".
Ausdrücklich gegen die
Beschlagnahme von Immobilien sprach sich Kai Warnecke von Haus&
Grund Deutschland aus. Die Tatsache, dass Hamburg und Bremen bereits
derartige Maßnahmen ergriffen hätten, sei "ein falsches Signal" urteilte
er. Dies sollte der Bund auch klarstellen. Zudem warnte er vor weiteren
Änderungen des Baugesetzbuches. Die im
Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz vorgesehenen Abweichungen von
bauplanungsrechtlichen Standards, die der Bundestag morgen unter anderem
beschließen will, seien schon jetzt "gewaltig". Unter anderem sei die
Unterbringung von Asylbewerbern in Industriegebieten "zweifelhaft".
Warnecke forderte daher: "Flüchtlinge mit Bleiberecht sollten ganz
normale Mieter werden."
Der Kritik Warneckes schloss sich der
Architekt und Energieberater Roland Borgwardt an. Standards im deutschen
Baugesetzbuch würden derzeit "vorschnell über Bord geworfen". Ein
späteres Nachrüsten von Gebäuden würde wesentlich teurer werden. Die
Unterbringung von Flüchtlingen in Industriegebieten lehnte Borgwardt
ebenfalls ab, da diese in der Regel weder hinsichtlich ihrer
Infrastruktur noch des Emissionsschutzes für eine Wohnnutzung geeignet
seien. Auch der Rechtsanwalt Klaus-Martin Groth sprach sich für
Unterkunftsmöglichkeiten aus, die eine selbstständige Haushaltsführung
ermöglichten.
Einig waren sich alle Sachverständigen in ihrem
Urteil, dass die Förderung des sozialen Wohnungsbaus, für den seit der
Föderalismusreform 2006 die Länder zuständig sind, schlecht
funktioniert. Sie forderten daher, die Kompensationsmittel des Bundes
für die soziale Wohnraumförderung künftig an klare Bedingungen zu
knüpfen und Berichtspflichten einzuführen. Außerdem sollte sich der Bund
Kompetenzen in diesem Bereich zurückholen, da er über die notwendigen
finanziellen Ressourcen verfüge, um diese Aufgabe zu bewältigen,
urteilte unter anderem Axel Gedaschko.
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